Technik – Was ist wesentlich?

Was ist wesentlich?

Atomkraft – Über die Nutzung einer unbeherrschbaren Technik

Kommentar – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

In Japan hat ein Erdbeben für die starke Beschädigung eines Atomkraftwerkes gesorgt. Dieser Schaden ist dabei, in eine Katastrophe ähnlichen Ausmaßes zu münden, wie dies bei der Havarie des Atomkraftwerkes in Tschernobyl 1986 der Fall war und wozu es bereits einige Jahre zuvor, 1979, in dem Kernkraftwerk[1] Three Mile Island bei Harrisburg in den USA beinahe gekommen wäre. Vor dem Hintergrund der Gefahren für Leib und Leben von unzähligen Menschen stellt sich die Frage: Was ist wesentlich?

Zunächst muss die weltweit in großem Umfang erfolgende bedenkenlose Nutzung einer im Zweifel nicht beherrschbaren Technik wie der Kernenergie[1] kritisch betrachtet werden. Dies sind wir auch den nun durch das Erdbeben leidenden Menschen in Japan schuldig, denn sie sind durch diese Technik einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt. Es stellt sich dann die Frage, warum wir Menschen eine gefährliche Technik wie die Atomenergie seit Jahrzehnten relativ sorglos einsetzen. Umso mehr stellt sich diese Frage, da sich die Risiken nicht in der Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe erschöpfen und die Atomkraft auch nicht die einzige unbeherrschbare Risikotechnik ist.

Unbeherrschbares Erbe

Denn wenn bei strahlenden Abfällen durch die Halbwertszeit der radioaktiven Elemente zumindest theoretisch noch ein Ende des Problems gesehen werden kann, so ist dies bei einer anderen von uns angewandten Technik schlicht nicht möglich. Wir überlassen unseren Kindern und Kindeskindern also ein gewaltiges unbeherrschbares Erbe.

Was in der Auseinandersetzung um die Atomkraft bisher wenig beachtet wird, ist die Gentechnik. Dies geschieht wohl auch aus dem verbreiteten Hang zum einfachen Denken. Mit der Gentechnik, vor allem der sorglosen Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, haben wir aber eine nach der Atomkraftnutzung weitere Stufe verantwortungsloser technischer Bearbeitung unserer Lebenswelt betreten! Einmal in die freie Natur entlassen kann niemand (!) vorhersagen, was diesem massiven Eingriff in die – eigenen Gesetzen folgende – Natur nachkommt.

Und dann stellen sich uns viele Fragen! Wer hat all dies zu verantworten, was eigentlich niemand verantworten kann? Und warum handeln Menschen so verantwortungslos? Wem nutz es? Was folgt als nächstes in dieser verhängnisvollen Entwicklung? Und können wir diese Entwicklung noch stoppen?

Abschließende Antworten kann und will ich hier nicht liefern. Vielmehr will dieser Kommentar möglichst viele Menschen zum kritischen Nachdenken anstoßen – zum Nachdenken über unseren gedankenlosen Einsatz jedweder verfügbarer Technik und über die damit verbundenen Verantwortlichkeiten.

Wer trägt die Verantwortung?

Wer trägt die Verantwortung? Völlig zu Recht müssen wir uns zunächst alle selbst in die Pflicht nehmen, denn eigentlich immer, besonders aber in einem demokratischen Gemeinwesen verantworten alle Glieder eines Gemeinwesens die Handlungen dieses Gemeinwesens. Dann aber stellt sich auch die Frage nach den Machtverhältnissen? Ganz offensichtlich schauen wir dann auf Politikerinnen und Politiker. Doch auch die Bundeskanzlerin – mit ihrem fragwürdigen Moratorium – oder der Bundestag entscheiden nicht allein! Ein nicht unbedeutender Teil der Macht in unserem Gemeinwesen – übrigens grenzübergreifend, also weltweit – befindet sich tatsächlich in den Händen von Konzernen – und in manchen Ländern auch von Oligarchen. Und dann suchen und fragen wir eben auch diese meist mehr im Hintergrund operierenden Menschen.

Wo liegt die Verantwortung bei der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen? Und welchen Nutzen hat die Gentechnik in der Landwirtschaft? Für die Menschheit hat sie wenig Nutzen aber unübersehbare Risiken, für die Konzerne Bayer/Aventis, Monsanto, Syngenta und DuPont jedoch bringt sie riesige Gewinne!

Und bei der Atomkraft? Im aktuellen Beispiel der Atomenergie liegt in Deutschland ein wesentlicher Anteil der Verantwortung bei den vier großen Energieversorgungskonzernen, E.ON, RWE, EnBW und Vattenfall Europe, und da dann vorrangig in den Händen der Unternehmensführung vertreten durch den jeweiligen Vorstandvorsitzenden (aber dennoch auch bei den Aktionäre und Kunden!). Wenn wir nach der Verantwortung fragen, dann müssen wir also auch und gerade die – demokratisch nicht legitimierten, wohl aber auf die gesamte Gesellschaft Einfluss nehmenden – Unternehmensführungen und konkret die Vorstandvorsitzenden fragen, ob sie diese genannten Gefahren verantworten können? Und ganz konkret können wir zum Beispiel den Vorstandvorsitzenden der E.ON AG (dem hauptsächlichen Versorger hier in Ostfalen) ein paar Fragen stellen: Das Atommüllendlager ASSE II bei Wolfenbüttel. Geht der Vorstandsvorsitzende der E.ON AG mit hinunter in das Bergwerk? Hilft er unter Bedrohung seiner Gesundheit bei der Bergung der radioaktiven Abfälle mit? Und bei einem drohenden „Super-GAU“ im hier nächstgelegenen AKW Grohnde bei Hameln. Was würde er wohl empfinden, wüsste er, dass eines seiner Kinder unmittelbar vor Ort ist? Oder er selbst, geht er bei einem drohenden „Super-GAU“ vor Ort in den Gefahrenbereich, um die Katastrophe abzuwenden? Ist der Vorstandvorsitzende der E.ON AG folglich bereit, seine eigene Gesundheit und sein eigenes Leben und nicht nur das Leben von Mitarbeitern und Rettungskräften zu riskieren? Das müssen wir fragen und daraus ergibt sich dann ein Appell auch an diese Verantwortungsträger!

Was ist also wesentlich?

Was ist also wesentlich? Wesentlich ist, dass sich jeder einzelne Mensch in unserem Gemeinwesen seiner Verantwortung bewusst wird. Wesentlich ist, dass sich jeder Mensch an die eigene Betroffenheit erinnert. Wesentlich ist, dass sich jeder Mensch des ihm innewohnenden Gefühls der Verbundenheit mit den anderen Menschen bewusst wird. Es ist also nicht nur eine Frage der eigenen Verantwortung, sondern davor eine Frage der eigenen Würde, also letztlich der eigenen Vernunft (nicht des einfachen Verstandes!), was wir als wesentlich anerkennen und zum Maßstab unseres Handelns erklären!

„Vernunft ist in Bewegung ohne gesicherten Bestand.
Sie drängt zur Kritik jeder gewonnenen Position, steht daher im Gegensatz zu der Neigung, sich durch endgültige feste Gedanken vom weiteren Denken zu befreien.“[2]

„… es ist ein Wunder, … daß in der Vernunft eine Kraft der Selbsterhaltung liegt, die als Freiheit immer wieder wirklich wird. Vernunft ist wie ein offenbares Geheimnis, das jederzeit jedem kund werden kann, der stille Raum, in den jeder einzutreten vermag durch eigenes Denken.“[3]

Karl Jaspers

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Weitere Informationen

Das Beispiel AKW Grohnde, weniger als 100 km Luftlinie entfernt von Braunschweig. Folgende sicherheitsrelevante Informationen hat Greenpeace im Herbst 2010 im Greenpeace Magazin 06/2010 veröffentlicht:

  • Meldepflichtige Ereignisse pro Jahr: 8,46 (Einstufung: viel)
  • Konstruktionsbedingte Sicherheitsmängel: In der 3. Baulinie wurden einige Sicherheitssysteme verbessert. Dennoch ist das aus den 70er-Jahren stammende Kraftwerksdesign stark veraltet. Beim gezielten Absturz eines großen Verkehrsflugzeugs würde die Betonhülle bersten.
  • Zwischenfälle (Auswahl):
    1985: Das Hochdruck-Notkühlsystem ist nicht einsatzfähig, weil eine der vier Pumpen Gas statt Wasser enthält. 
Ein Leck im Primärkühlkreislauf hätte somit zur Kernschmelze führen können.
    1990: An 18 Zentrierstiften, die verhindern sollen, 
dass sich Brennelemente verschieben, werden während einer Revision Schäden entdeckt.
    2005: Wegen verschiedener Störungen wird im Juni binnen zwei Wochen zweimal eine Schnellabschaltung ausgelöst.
    2010: Im August werden bei der jährlichen Revision an einer Anlage zur Abwasseraufbereitung ein Leck und eine räumlich begrenzte radioaktive Kontamination entdeckt. [4]

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Quellen und Hinweise

[1] Begriffserklärung: Kernkraftwerk und Kernenergie werden von den Befürwortern der Atomkraft erst etwa seit den 1960er Jahren vorrangig verwandt. Zuvor waren hauptsächlich Begriffe mit der Vorsilbe Atom im Gebrauch. Unter anderem wegen einer Abgrenzung zur Atombombe wurde dann auf Seiten der Befürworter die harmloser klingende Vorsilbe Kern eingeführt. Kritiker der Atomenergie behielten die Vorsilbe Atom und die Bezeichnung Atomkraft bei.

[2] Jaspers, Karl: Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit: Drei Vorlesungen. Neuausg. 3. Aufl. München: Piper, 1990 [(1) 1950], S. 34.

[3] Jaspers, Vernunft, S. 71.

[4] Hassenstein, Wolfgang: „Nukleares Roulette“ in greenpeace magazin 6.10, S.31 ff.

25 Jahre Tschernobyl – Bundesweite Demonstration auch in Ostfalen

25 Jahre Tschernobyl – AKWs endlich abschalten!

Bundesweite Demonstration an dreizehn Atomstandorte

Wolfenbüttel/Salzgitter, 16.03.2011. (re) Ein Bündnis aus Anti-Atom-Initiativen, Umweltverbänden und Friedensinitiativen organisiert anlässlich des 25. Jahrestages der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl eine bundesweite Gedenk- und Protestaktion. Vor dem Hintergrund der tragischen Vorfälle in Japan erscheint diese mahnende Aktion aktueller denn je. Die Veranstalter schreiben auf ihrer Internetseite:“Ausgerechnet Ostermontag, am 25. April, findet die nächste bundesweite Demonstration gegen Atomenergie statt. Denn manche Anlässe lassen sich eben nicht verschieben: Am folgenden Tag jährt sich die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl zum 25. Mal und die Forderung ist, endlich Konsequenzen zu ziehen und die Atomkraftwerke abzuschalten. Darum werden zeitgleich an zehn Reaktor-Standorten und drei weiteren Atom-Standorten große Aktionen stattfinden.”

Ausstiegs-Haltestellen in der gesamten Region

Das Braunschweiger Land ist einer der drei weiteren Atom-Standorte, an denen Aktionen stattfinden sollen. Mit den aktiven Endlagern Morsleben und ASSE II sowie dem im Bau befindlichen Endlager Schacht KONRAD ist das Braunschweiger Land, also ein bedeutender Teil von Ostfalen, von der Atomenergienutzung stark und nachhaltig betroffen. Im Braunschweiger Land ist es geplant, möglichst in der ganzen Region kleinere und größere Aktionen durchzuführen. Dazu sollen sogenannte Ausstiegs-Haltestellen dienen. Nähere Informationen finden sich auf der Internetseite der bundesweiten Initiative und auf der Internetseite der Arbeitsgemeinschaft Schacht KONRAD e. V.

Abschlusskundgebung am Schacht Konrad

Von 14:00 bis 16:00 Uhr ist an diesem Tag dann eine Abschlusskundgebung auf der Industriestraße Nord vor Schacht KONRAD geplant.

Ostfalen-Spiegel: Den Atomausstieg selber machen

Ostfalen-Spiegel wechselt zu Stromversorgung absolut ohne Atomkraft

Den Atomausstieg selber machen!

Wolfenbüttel, 15.03.2011. (re) Bereits seit Jahren bezieht die Redaktion laut ihrem Energieversorger ihren Strom zu einhundert Prozent aus erneuerbaren Energiequellen frei von Atom- und Kohlestrom. Bei vielen Anbietern ist dies allerdings nur ein Tarif neben Tarifen mit Atom- und Kohlestrom (meist von den vier großen deutschen Energieversorgern und Atomkraftwerksbetreibern). Entsprechend werden diese Energieversorger mindestens indirekt weiter unterstützt. Hinzu kommt, dass nur ein stetiger Zubau von ökologisch verträglichen Kraftwerken zu einem tatsächlichen Atomausstieg führt.

Atomkonzern E.ON hält einen Anteil von 26 Prozent an den Stadtwerken Wolfenbüttel

Bereits vor dem Erdbeben und dem damit verbundenen atomaren Notstand in Japan hat die Redaktion den Wechsel zu Greenpeace Energy eingeleitet. Ausschlaggebend für die Entscheidung für diesen Anbieter sind der konsequente Vertrieb von ökologisch verträglichem Strom ohne Atom und Kohle, der Bau eigener, sauberer Kraftwerke und das Genossenschaftsmodell. Hinzu kommen die Besitzverhältnisse des bisherigen Stromversorgers, der Stadtwerke Wolfenbüttel. Der große Atomkonzern E.ON AG hält über den Regionalversorger E.ON Avacon AG einen Anteil von 26 Prozent an den Stadtwerken Wolfenbüttel (die übrigen 74 Prozent gehören der Stadt Wolfenbüttel). Somit wurde der Energieversorger E.ON auch direkt unterstützt. Dies gab den letzten Anstoß zum Wechsel.

Atomausstieg selber machen

Die Redaktion des Ostfalen-Spiegels empfiehlt allen Leserinnen und Lesern, dringend über den eigenen Atomausstieg nachzudenken. Dabei ist Greenpeace Energy nicht der einzige empfehlenswerte Energieversorger! Sowohl für den eigenen Haushalt als auch für Gewerbebetriebe ist ein selbstgemachte Atomausstieg jederzeit möglich. Die Initiative “Atomausstieg selber machen”, ein Bündnis von Umweltverbänden, Verbraucherschutz-Organisationen und Anti-Atom-Initiativen, fordert seit 2006 dazu auf : “Wir rufen alle Menschen und Unternehmen in Deutschland dazu auf, kein Geld mehr an die Atomkonzerne und ihre Tochterunternehmen zu zahlen.” Auf der Internetseite von “Atomausstieg selber machen” finden sich zahlreiche Informationen zum persönlichen Atomausstieg und Empfehlungen für wirklich unabhängige Stromanbieter.

IV. Mehr Schein als Sein

Mehr Schein als Sein

oder

Verantwortung verpflichtet!

Gedanken zum Zeitgeist IV – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

Verantwortung verpflichtet! So ist die Internetseite von Herrn Freiherr Karl-Theodor von und zu Guttenberg überschrieben. Aber hat sich dies in der Affäre um seine Doktorarbeit widergespiegelt – sowohl bei ihm als auch im öffentlichen Umgang damit? Wofür steht diese Affäre möglicherweise stellvertretend? Zählt der Schein heute mehr als das Sein? Was an dieser Affäre ist für unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft von – vielleicht sogar fundamentaler – Bedeutung? Zur Diskussion über solche Fragen will dieser Kommentar anregen. Dabei geht es nicht allein um die Person Guttenberg, sondern vielmehr um sich in der Affäre spiegelnde Denkhaltungen und deren gesellschaftliche Bedeutung. Für deren Verdeutlichung muss dann aber eben das Verhalten des Herrn zu Guttenberg beispielhaft näher betrachtet werden!

Verantwortung verpflichtet! Und die Übernahme von Verantwortung setzt Charakter und Verantwortungsbewusstsein voraus. Also sollten wir in den entsprechenden Positionen von Politik und Wirtschaft beides vermehrt antreffen. Und wache Bürgerinnen und Bürger sollten die Trägerinnen und Träger von Verantwortung auch entsprechend beobachten und beurteilen. Für den gesunden Menschenverstand eine Schlüssige Annahme, oder? – Aber weit gefehlt! Denn die nähere Betrachtung der Plagiatsaffäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg zeigt leider in Teilen der Öffentlichkeit einen ganz anderen Umgang. Somit ist dieses Ereignis beispielgebend dafür, wie weit unserer gesellschaftliches Wertesystem und das damit verbundene Verantwortungsbewusstsein möglicherweise schon wieder verfallen sind. Mancherorts zählt mehr Schein als Sein, geübte Blender werden mehr geachtet als unscheinbar aber verantwortungsbewusst tätige Menschen. Dr. Helmut Kohl sprach vor seiner „Machtübernahme“ von einer geistig-moralischen Wende – geschafft!? Nun, angesichts mancher merkwürdigen Bewertung dieses Ereignisses oder auch anderer öffentlicher Darbietungen scheint sich diese Wende im Denken nicht weniger Menschen tatsächlich vollzogen, vielleicht sogar bereits manifestiert zu haben.

Ich habe früher in der Schule auch abgeschrieben

„Ich weiß gar nicht, was die haben, ich habe früher in der Schule auch abgeschrieben! Der Herr von und zu Guttenberg ist doch so ein gut aussehender freundlicher Mann – und der hat auch so eine schöne Frau an seiner Seite!“ – So oder ähnlich lauten die Kommentare, die wir in den ersten Tagen der Affäre im Radio von Moderatorinnen und Moderatoren hörten oder die wir in der Presse lesen konnten in Bezug auf die Plagiatsvorwürfe gegen Herrn zu Guttenberg. So etwas sendete hier in Niedersachsen der private Radiosender FFN genauso wie der öffentlich-rechtliche Sender NDR2 – und anderswo in Deutschland wird es nicht anders gewesen sein. Letzterer (NDR2) lässt so etwas nicht nur seine Moderatoren sagen, sondern kreiert dazu sogar extra eine Folge der Comedy-Serie „Frühstück bei Stefanie“ – von Rundfunkgebühren bezahlt, die nicht zuletzt erhoben werden, um die Bildung und die Informationsfreiheit für uns Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten! Dem wachen, vernünftigen und verantwortungsbewussten Menschen dreht sich dabei der Magen um! „Freiherr ist doch sowieso mehr“ geht es dann weiter. Im Falle dieses Beitrages mag ein Hinweis auf die Ironie ja noch stimmen. Allerdings wird die von vielen Menschen gar nicht mehr erkannt, sondern das wird tatsächlich wieder so gedacht. Es ist richtig, dass es ein „oben“ und ein „unten“ gibt. Wenn jemand es schafft, eine schöne Fassade aufzubauen oder gar „blaues Blut“ in seiner Adern fließt, dann hat der ja ohnehin mehr Würde; „die Reichen und Schönen“ sind ja so bewundernswert! wird tatsächlich geglaubt. „Oh, heute hat der Chef mit mir gesprochen!“ gilt als die höchste Ehre. – „Der Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“[1] (Kant) hat leider noch immer nicht stattgefunden! Nun gehört es zur Freiheit des Menschen auch, dumm zu sein und dumm zu bleiben. Doch für eine Gesellschaft und somit letzten Endes auch für einzelne Menschen („dumme“ wie „schlaue“) kann diese Beschränktheit schlimme Folgen haben! Wer in der Schule Geschichte lückenlos bis zur Gegenwart gelernt und dabei aufgepasst hat, müsste dies wissen! Der folgende Satz von Hannah Arendt mag dann zusätzlich zum Denken anregen:

„… der Stolz eines Bürgers einer Republik ist [es], nicht mehr zu gelten in öffentlichen Angelegenheiten als irgendein anderer Bürger – dies ist seine »Tugend« – … wenn man in einer Republik nicht mehr weiß, was Tugend ist, … so geht [diese] … ihrem Ende entgegen.“[2]

Charakterschwäche

Für einen Herrn Guttenberg entwickeln die Menschen dann plötzlich ein Mitgefühl. Das tägliche Leid Millionen von Menschen in der Welt oder auch nur das Pech des Nachbarn prallt an ihrer Einfühlsamkeit ab, aber der „arme“ Minister tut ihnen dann plötzlich leid. Dabei ist die Schicksalsverantwortung eigentlich ganz anders verteilt. Aber dennoch lachen die Menschen tatsächlich, über die Menschen, die sich aufregen und über Menschen, die Pech haben und … Schlichte Gemüter, die sich nicht bewusst sind, wohin wir schon wieder unterwegs sind? Vielleicht, aber es geht durch alle Bildungsschichten! Und Menschen, denen ein smart wirkendes Auftreten und eine schöne Fassade mehr wert ist als Ehrlichkeit, die haben mindestens, wie es scheint, eine Charakterschwäche – sowohl die, die sich so geben, als auch die, die so etwas bewundern! Wobei den Bewunderern vielleicht noch ihr einfacher Geist zu Gute gehalten werden können mag oder dass sie es schlicht nicht sofort als nur schöne Fassade erkennen. Allerdings frei nach Kant: die Anlage zum eigenständigen Denken haben wir alle mit der Geburt bekommen. Aufgabe einer freien Gesellschaft ist es dann, diese Anlage zu fördern – durch Bildung, die Vermittlung von Wissen und die Charakterbildung. Und da hat unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten versagt. Mit Willy Brandt als Bundeskanzler begann eine kurze Ära, in der dieses Ideal ganz bewusst angestrebt wurde. Schon gut zehn Jahre später, 1982, begann ein Ära, die noch immer andauert, in der dieses Ideal und seine realen Folgen allem Anschein nach bewusst untergraben und zerstört wurden und werden – zum Machtausbau und Machterhalt! Und viele Journalistinnen und Journalisten arbeiten heute fleißig daran mit. Angefangen hat das früh schon mit einem bekannten Boulevard-Blatt, fortgesetzt hat sich das dann mit der Einführung des privaten Rundfunks und privaten Fernsehens und erreicht wurden mittlerweile auch die öffentlich bezahlten Medien, die ja inzwischen auch ohne Probleme mit der bekannten Boulevardpresse zusammenarbeiten. In vor allem privaten Fernsehsendungen wird beispielsweise gefeiert, wie sich Menschen wie du und ich öffentlich bloßstellen oder wie diese öffentlich bloß gestellt werden. Haben wir gelacht! Merkwürdige Castingshows sind interessanter als ein anspruchsvoller Spielfilm. Und mit der Übertragung von Boxkämpfen in ARD und ZDF wird nach meinem Empfinden Gewaltanwendung auch noch als Sport kultiviert. Die Einschaltquote bei der Übertragung der königlichen Hochzeit in London wird dann andeuten, wie viele Menschen auch hierzulade doch gerne wieder einen König (vielleicht einen von und zu Guttenberg?) hätten. Hurra, wir verblöden! Die tendenzielle Tragweite dieser noch um viele Beispiele erweiterbaren Entwicklung scheint vielen nicht bewusst zu sein, gefährlich ist sie dennoch!

„… Wir wollen mehr Demokratie wagen. … Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. …“

Willy Brandt [3]

Titel, dessen blendenden Schein ich für meine Karriere in Politik und Wirtschaft benötige

Zurück zum aktuellen Beispiel. Es ist sehr wohl ein himmelweiter Unterschied, ob ein Kind oder ein Heranwachsender in der fünften oder siebten Klasse in einer Klassenarbeit abschreibt, oder ob ein erwachsener und gereifter (?) Mensch die „höchsten Weihen“ anstrebt, die unser Bildungssystem zu vergeben hat (beides ist zwar eine Verfehlung, aber das Kind findet noch zu sich als Person). Und das ist erstrecht ein Unterschied in einer Gesellschaft, in welcher Menschen mit Titel für besonders gehalten werden (was sie als Menschen nicht sind!). Und wirklich finster wird es, wenn es „ja nicht so schlimm“ sein soll, dass dies von einem Inhaber eines hohen Staatsamtes gemacht wurde. Ein Amt auch noch, in dem dieser Mensch die Verantwortung für viele andere Menschen trägt, die täglich das Leben wieder anderer Menschen und ihr eigenes Leben riskieren. Da fehlen einem schlicht die Worte! Jeder Student bekommt schon seine Hausarbeit „um die Ohren geschlagen“, wenn er sich nicht die Mühe macht, die Arbeit selbst zu verfassen, sondern sie abschreibt (vorausgesetzt sein Dozent merkt dies!)! Aber bei einem Minister soll dies nicht so schlimm sein? Jeder und jede, die wissenschaftlich arbeiten gelernt haben, weiß um die Sträflichkeit einer solchen Arbeitsweise. Und das hat ja auch einen Sinn. Wer den Doktor anstrebt, strebt eigentlich an, die Wissenschaft voran zu treiben (und idealer Weise nicht allein den Titel!). Und dafür erbringt er oder sie in der Doktorarbeit einen entscheidenden, besonderen Anteil. Und dazu gehört ein gewissenhaftes Arbeiten! Wenn es mir aber ohnehin nur um einen Titel geht, dessen blendenden Schein ich für meine Karriere in Politik und Wirtschaft benötige, dann muss ich mich ja nicht mit solchen „Kleinigkeiten“ aufhalten, oder? Mit Nichten! Denn eine solche Arbeitsweise ist ja nicht allein in der Wissenschaft (was aber auch allein sträflich wäre) untragbar, sondern ja wohl in jedem Arbeitsfeld. Kaum jemand würde sich gerne in ein Auto setzen, was mit einer solchen Denkhaltung montiert wurde. Sowohl dem so handelnden als auch den dieses Handeln Tolerierenden fehlt es einfach an einem Unrechtsbewusstsein und folglich auch an Verantwortungsbewusstsein!

Als Spross einer alten Adelsfamilie sind einem zunächst enge Grenzen gesetzt

Bei Herrn Guttenberg zeigt ein kurzer Blick in den entsprechenden Wikipedia-Eintrag (mit einem Verweis auf das ARD-Politik-Magazin Panorama) interessanterweise, dass dieser ohnehin zu Übertreibungen in seinem Lebenslauf neigt. – Soziologisch und psychologisch betrachtet können wir für das Verhalten von Herrn von und zu Guttenberg vielleicht sogar Erklärungen und somit „Entschuldigungen“ finden, denn als Spross einer alten Adelsfamilie sind einem vielleicht doch zunächst enge Grenzen gesetzt. Aber das ändert nichts an der politischen und moralischen Bewertung! Für Herrn Guttenberg bleibt zu wünschen, dass er diesen Einschnitt in sein Leben nutzt, um seine Denkungsart als Mensch (!) kritisch zu hinterfragen.

„Das junge Volk bildet sich ein,
Sein Tauftag sollte der Schöpfungstag sein.
Möchten sie doch zugleich bedenken,
Was wir ihnen als Eingebinde schenken.“

Johann Wolfgang von Goethe [4]

Die Kunduz-Affäre

Vor dem Hintergrund des Umgangs von Guttenberg mit der berechtigten Kritik an seiner Doktorarbeit erscheinen auch die schon fast in Vergessenheit geratene Kunduz-Affäre und auch seine bemühte Nähe zu den Soldaten in einem neuen Licht. In der Kunduz-Affäre hat Herr Guttenberg seinen Staatssekretär und den Generalinspekteur der Bundeswehr Schneiderhan entlassen, weil sie ihn angeblich unvollständig unterrichtet hätten. Der entlassene General, dem als Offizier wohl ein besonderes Pflichtbewusstsein zugesprochen werden kann und der eine solche Unterstellung sehr wahrscheinlich als ehrverletzend ansieht, versichert, dem Minister keine Informationen vorenthalte zu haben! Damals wie heute scheint ein immer gleiches Verhalten erkennbar zu sein. Erst wird forsch vorgeprescht und Aktionismus gezeigt, dann folgt ein langsames Rückwärtsgehen, in dem Fehler entweder anderen zugeschrieben, als geringfügig dargestellt oder als nun mal nicht vermeidbar abgetan werden. Erst, wenn es gar nicht mehr anders geht, werden sie eingestanden – soweit notwendig.

Guttenberg versteckt sich hinter seinen Soldaten

Und besonders unerträglich erscheint es nun auch, wenn sich Herr Guttenberg dann noch in seiner Rücktrittsrede darüber beschwert, dass die Berichte über seine Verfehlungen in den Medien den Tod und die Verwundung deutscher Soldaten in Afghanistan in den Hintergrund treten ließen. Da sind wir wieder bei der Frage nach der Verantwortung angekommen. Herr zu Guttenberg versteckt sich hinter seinen Soldaten! Was macht Herr von und zu Guttenberg mal wieder, als die Affäre langsam „hochkocht“ (kurz vor dem tragischen Tod der Soldaten)? Er fliegt schnell zu einem medienwirksamen Front-Besuch nach Afghanistan. So wie er den Afghanistan-Krieg immer wieder gern für medienwirksame Auftritte genutzt hatte – bis hin zu einer Fernsehshow zusammen mit seiner Frau Stephanie und Moderator Johannes B. Kerner. Hauptsache ein edler Schein bleibt gewahrt. An all das mögen bitte alle Soldatinnen und Soldaten denken, die jetzt ihrem Minister nachtrauern! Denn die Presse hat in unserer Demokratie den Auftrag, der Politik kritisch auf die Finger zu schauen. Ein verantwortungsbewusster Verteidigungsminister hätte den Vorgang abgekürzt, indem er seine Fehler sofort öffentlich eingestanden und seine Konsequenzen gezogen hätte. Dann hätte die Presse auch dem tragischen Tod der Soldaten und der Verwundung ihrer Kameraden wieder mehr Raum schenken und damit dies angemessener würdigen können.

„… so besteht stets die Möglichkeit, daß sich das Erscheinende schließlich, indem es verschwindet, als bloßer Schein herausstellt.“

Hannah Arendt [5]

Die promovierte Physikerin Merkel lässt weit blicken

Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Zu Recht und zum Glück gab es einen breiten Aufschrei aus der Wissenschaft! Denn wenn Herr Guttenberg damit durchgekommen wäre, hätte der gesamte deutsche Wissenschaftsapparat darunter gelitten. Die Würdigung deutscher Promotionsverfahren ist nicht Gegenstand dieses Kommentars, auch wenn diese bei der Doktorwürde des Ex-Ministers auch eine Rolle gespielt haben. Wenn es aber bei einer deutschen Doktorarbeit nicht mehr auf die Genauigkeit und Wahrhaftigkeit ankommt, dann verliert die gesamte Wissenschaft an Glaubwürdigkeit. Am Ende zählt ein deutscher Abschluss nichts mehr. Und auch eine fundierte kritische Auseinandersetzung mit Problemen wie zum Beispiel dem Atommüllendlager in der Asse bei Wolfenbüttel ist nicht mehr möglich, da es keine glaubwürdigen Wissenschaftler mehr gibt. Dass die promovierte Physikerin Merkel dann sagt, sie hätte einen Minister und keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt, lässt weit blicken – ihr Wissenschaftsverständnis betreffend, die charakterlichen Anforderungen für verantwortliche Ministerinnen und Minister betreffend und auch ihr eigenes Verantwortungsbewusstsein betreffend!

„… Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden Anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewußtseins eines Menschen, daß er einen Charakter hat …“

Immanuel Kant [6]

Vor dem Hintergrund der gesamten Affäre scheint es für alle verantwortungsbewussten Menschen ratsam, über die Tragweite der den beschriebenen Vorgängen zugrunde liegenden Denkhaltung von Menschen und Gesellschaft nachzudenken. Besonders betrachtenswert scheinen die Menschen, die so handeln ebenso wie die Menschen, die dies Handeln gutheißen; die Medien, allen voran die bekannte Boulevardpresse, die ihrer primären Aufgabe, der kritischen Begleitung von Politik und Wirtschaft, nicht gerecht werden; und Menschen überhaupt, die sich lieber vom schönen Glanz blenden lassen, als den eigenen Verstand zu benutzen.

Ergänzend sei hier noch angemerkt, dass die bekannte Boulevardpresse den Minister „hochgeschrieben“ und die Plagiatsvorwürfe zunächst schöngeredet hat und das diese Presse zugleich vom Verteidigungsministerium mit einer umsatzstarken Werbekampagne für dringend benötigte Freiwillige beauftragt wurde.

Für Reflexion und Diskussion ist eine kritische Betrachtung notwendig

Abschließend betone ich aber wieder, dass es nicht um die Forderung nach „Unfehlbarkeit“ geht! Auch soll dies keine abschließende Verurteilung von Herrn Guttenberg sein. Das ist die Aufgabe der betroffenen Hochschule, der zuständigen Gerichte und mit der gebotenen menschlichen Rücksichtnahme die eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin für sich. Aber für die Reflexion und eine Diskussion dieser Vorkommnisse und der damit verbundenen Denkhaltung ist eine kritische Betrachtung notwendig und zulässig. Verfehlungen begeht jeder Mensch! Bei der Beurteilung dieser Verfehlungen spielen dann sicher auch Absicht und Tragweite, also die Folgen, eine Rolle. Wie es scheint, kann mittlerweile wohl eine Absicht unterstellt werden. Das hieße dann aber, dass ein erwachsener Mann, der bereits eine Position mit gesellschaftlicher Verantwortung bekleidete, wie ein Schüler abgeschrieben hat. Und die tendenzielle Tragweite (in diesem Beispiel wahrscheinlich nicht die in vollem Umfang beabsichtigte) wurde zuvor zumindest in Teilen beschrieben. Eine große Verantwortung setzt auch einen starken und ehrlichen Charakter voraus. Wer sich der Verantwortung verpflichtet fühlt, muss dieser auch jederzeit eindeutig versuchen gerecht zu werden und auch eindeutig versuchen entsprechend zu handeln. Wie schon im alltäglichen Umgang von Menschen miteinander, Freunde, Nachbarn, Verkäufer, Kunden usw., so sollten auch und erstrecht in Verantwortungspositionen der Gesellschaft Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit vorrangige Tugenden sein. Doch wenn Politik, Wirtschaft und Medien mit solchen Beispielen voran gehen, wen wundert dann noch der „alltägliche“ Versicherungsbetrug? – um nur ein Beispiel für leider sehr verbreitete Verfehlungen zu nennen. Es fragt sich also, was den Blender zum Blenden treibt ebenso wie, warum sich heute wieder viele Menschen so gerne blenden lassen? Vielleicht sollte nicht nur Herr Guttenberg seine Denkungsart hinterfragen? Charakterbildung ist eine Aufgabe, vor der sich jeder Mensch irgendwann wiederfindet – dies wird nur leider häufig nicht erkannt. Alle zusammen sollten wir uns in jedem Fall aber in allen Bereichen unserer Lebenswelt wieder um mehr Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit bemühen!

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Weitere Informationen:

Ein interessanter Kommentar zu Guttenbergs Rücktritt findet sich auf den NachDenkSeiten mit dem Titel „Guttenbergs unaufrichtiger Rücktritt

Was hinter der Guttenberg-Affäre verschwindet zeigt ein anderer Beitrag der NachDenkSeiten: „Die Hauptsache verschwindet hinter dem Getöse um Guttenberg: der Ausbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, auch zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen

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Quellen

[1] Kant, Immanuel: “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”, Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 481-494. Zitiert nach Kant, Erhard, Hamann u. a.: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam, 1992, S.9 [auch Projekt Gutenberg].

[2] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Ungek. Taschenbuchausg. 11. Aufl. München: Piper, 2006 [(1) 1951], S. 959 f. [Hervorhebung i. Orig.].

[3] Brandt, Willi: Regierungserklärung 1969 (http://www.bwbs.de/UserFiles/File/PDF/Regierungserklaerung691028.pdf).

[4] Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Band XIV. Lyrische und epische Dichtungen. Band I. Hrsg. von Hans Gerhard Gräf. Druck des 27. Bis 29. Tausends von Breitkopf & Härtel in Leipzig. Leipzig: Inselverlag, [o. J.], S. 590 [Scan (Digitalisierung) des Buches zu finden im Internet Archive unter: http://www.archive.org/stream/leipsmtlichew14goetuoft/leipsmtlichew14goetuoft_djvu.txt].

[5] Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes: Das Denken: Das Wollen. Hrsg. V. Mary McCarthy. A. d. Amerik. V. Hermann Vetter. Ungek. Taschenbuchausg. 2. Aufl. München: Piper, 2002 [(1) 1971], S. 47 [Hervorhebung i. Orig.].

[6] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. u. eingel. V. Wolfgang Becker. M. e. Nachw. V. Hans Ebeling. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1983 [(1) 1798], S. 245 [auch: http://www.korpora.org/Kant/aa07/295.html].

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Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

I. Tapfer sterben für …

II. Der Finger in der Wunde

III. Die Demokratie lebt vom Diskurs

IV. Mehr Schein als Sein

V. Begründung einer Hoffnung

VI. Wer das Geld hat –

VII:.…

Ostfalen-Spiegel überarbeitet – Nachtrag

Kurzer Nachtrag zur Überarbeitung des Ostfalen-Spiegels

Wolfenbüttel, 16.02.2011. (re) Unsere Situation lässt es notwendig erscheinen, sich zu besinnen! Und aus dieser Besinnung heraus sollten dann Diskussionen geführt werden. Den Kommunikation ist wesentlich! Als Denkanstöße, aber auch, da sich aus der Gesamtheit der Aufsätze „Gedanken zum Zeitgeist“ das Selbstverständnis und die Verortung des Ostfalen-Spiegels ergeben, werden diese Aufsätze nun auf einer eigenen statischen Seite „Zeitgeist“ zugänglich gemacht.

Ostfalen-Spiegel überarbeitet

Kleine Überarbeitung des Ostfalen-Spiegels

Wolfenbüttel, 14.02.2011. (re) Mitte Februar wurde der Ostfalen-Spiegel einer kleinen Überarbeitung unterzogen. Hauptsächlich wurden dabei die statischen Seiten überarbeitet. In die Seite „Ostfalen-Spiegel“ wurde neben dem Abschnitt „In eigener Sache“ ein zweiter Abschnitt „Formalitäten“ eingefügt. Hier werden der Aufbau des Ostfalen-Spiegels, die einzelnen statischen Informations-Seiten, Artikel und Kategorien sowie die Kommentarfunktion erläutert.  In Folge dessen wurde die Seite mit der Erläuterung der Kommentarfunktion entfernt.

Neue Seite „Einkehr-Empfehlungen“

Neu hinzu gekommen ist eine kleine Service-Seite „Einkehr-Empfehlungen„, in welcher die Redaktion aus ihrer subjektiven Sicht Gaststätten in Ostfalen empfiehlt. Außerdem wurde die Seite „Verweise“ neu sortiert. Und es wurden in die Seiten „Impressum“, „Ostfalen-Spiegel“ und „Verweise“ ein verlinktes Inhaltsverzeichnis eingefügt.

Mit Radau auf den Brocken

Mit Radau auf den Brocken

Ausflugsziele in Ostfalen – Natur, Geschichte, Gegenwart

Eine ausgedehnte Wandertour (gewandert im Mai 2008) führt durch eine schöne Landschaft hinauf auf den Brocken und wieder hinab ins Eckertal. Dabei wird von am Wegesrand liegenden Orten erzählt und die Schönheit der Natur des Harzes gezeigt. Zugleich können Wanderin und Wanderer ihre körperliche Verfassung einer Prüfung unterziehen, denn es werden etwa 900 Höhenmeter bezwungen – hinauf und auch wieder hinab. Wie im Harz allgemein üblich, sind die Wege meist gut beschildert und ausgezeichnet.

Anfahrt: mit dem Pkw oder mit dem Bus, Fahrplanauskünfte:

Ausgangspunkt: Harz, Niedersachsen, Parkplatz und Bushaltestelle am Radauwasserfall an der B4, Parkplatz im Radautal

Länge: etwa 23,1 km (oder etwa 24 km)

Höhen: zw. 446 m u. 1140 m ü. NN , zu Überwinden sind ca. 910 Höhenmeter auf u. ab

Kennzeichnung der Wege: Wie im Harz allgemein üblich sind die Wege meist gut beschildert und ausgezeichnet. Dies erfolgt in der Regel durch die Zweigvereine des Harzklubs, hier in Zusammenarbeit mit dem Nationalpark Harz.

Rast: Bänke, Schutzhütten, drei Orte mit Gaststätten

Grundsätzliche Ratschläge: finden sich bei Gedanken, Hinweise und Tipps zum Wandern

Bad Harzburg. (re) Ein besonders guter Blick über Ostfalen ist auf der regional höchsten Erhebung zu bekommen, dem Brocken. Der Brocken ist mit 1141,1 Metern der höchste Berg im Harz und in Norddeutschland. Lange Zeit wurde die Höhe mit 1142 Metern angegeben. Eine neue Messung erbrachte aber die bereits von Carl Friedrich Gauß ermittelte Höhe von 1141,1 Metern. Nun ja, in modernen Zeiten wird die Realität dann eben den Vorstellungen angepasst. Für den Bezug zu der in vielen Landkarten und Büchern angegebene Höhe von 1142 Metern wurde Mitte der 1990er Jahre ein Felsbrocken auf den Gipfel gestellt, der den Berg auf etwa 1143 Meter erhöht und eine Markierung auf der Höhe von 1142 m trägt.

Viele Wege auf den Brocken

Es gibt viele Wege auf den Brocken. Besucherinnen und Besucher können den Brocken sportlich oder bequem mit verschiedenen Arten der Fortbewegung erreichen, zu Fuß als Wanderer, mit dem Fahrrad, mit der Pferdekutsche oder mit der Brockenbahn und im Winter auf Skiern. Nur Personen mit Sondergenehmigung dürfen den Mitten im Nationalpark Harz gelegenen Gipfel mit dem Automobil anfahren. Dieser Bericht beschreibt die Fortbewegung zu Fuß aus der Sicht eines Wanderers. Die meisten Streckenabschnitte können aber auch mit dem Fahrrad, vorzugsweise einem Mountainbike, befahren werden. Verantwortungsbewusste Mountainbiker nehmen dabei gerne Rücksicht auf Wanderer, die in die Natur gehen, um sich von der Hektik des Alltags zu erholen!

Wandernd kann der Gipfel von zwei Seiten aus erklommen werden, vom Norden her über den Hirtenstieg und von Süden her über die Brockenstraße. Weiter bergab verzweigen sich diese Wege dann aber, so dass eigentlich von grob gesagt fünf Richtungen für den Anstieg auf den Brocken geredet werden kann. Diese fünf Richtungen sind von Ilsenburg aus im Nordosten, von Schierke aus im Südosten, Oderbrück als Ausgangspunkt im Südwesten, Torfhaus im Westen und Bad Harzburg im Nordwesten. Für die Auswahl des genauen Ausgangspunktes gibt es dann je nach Zeit und Kondition sowie landschaftliches Interesse noch eine etwas größere Zahl von Möglichkeiten. Bei allen Ausgangspunkten müssen mehrere hundert Höhenmeter überwunden werden, so dass eine Wandertour auf den Brocken von den zu überwindenden Höhenmetern her mindestens leicht alpinen Charakter hat. Zur Vorbereitung einer alpinen Bergtour eignet sich der Brocken somit hervorragend. Entsprechend ist die Voraussetzung für eine Wandertour auf den Brocken auch das Vorhandensein von genügend Kraft und Kondition. Wanderin oder Wanderer müssen keine Leistungssportler sein. Wer aber das ganze Jahr nur am Schreibtisch sitzt, wird wohl besser mit der Bahn fahren.

Kraft und Ausdauer auf dem Rad

Mit einem Gemisch aus Verwunderung und Bewunderung haben wir auf unserer Wanderung einen Mann beobachtet, der etwa zeitgleich mit uns gestartet war. Auf einem herkömmlichen Drei-Gang-Rad machte er sich auf dem Weg zum Gipfel. Schiebend trafen wir ihn später wieder. Denn gerade für den Aufstieg mit dem Fahrrad sind Kraft und Ausdauer hilfreich, wenn nicht sogar notwendig. Und ein modernes Mountainbike mit guter Übersetzung ist sehr empfehlenswert. Spätestens an den steilen Stellen kommt es sonst zur Zwangspause oder gar zum Kollaps. Und für die Abfahrt sind dann sehr gute Bremsen unerlässlich und auch ein Helm sollte getragen werden!

Auf den Gipfel des Brockens führt der Kolonnenweg, später Hirtenstieg vom Norden her oder die Brockenstraße vom Süden her.  In den Kolonnenweg münden der längste Aufstieg, der Heinrich-Heine-Weg, der von Ilsenburg herauf kommt und der Weg aus Richtung Bad Harzburg. Mit der Brockenstraße aus Schierke vereint sich der Goetheweg aus Richtung Torfhaus, welcher zuvor bereits die Wanderer vom Soldatenfriedhof und aus Oderbrück aufgenommen hat. Die Brockenstraße kann zum Beispiel auch aus Richtung Drei Annen Hohne erreicht werden. Dies als kurzen Hinweis auf die zahlreichen Aufstiegsmöglichkeiten auf den Brocken. Die hier beschriebene Tour nähert sich dem Brocken von Nordwesten her. Ausgangspunkt ist das Radautal.

Ab in das Radautal

Wer mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreist, steigt an der Haltestelle Radauwasserfall aus dem Bus. Von hier aus geht es auf der Ostseite der Bundesstraße 4 (B4) wenige Meter bergan. Dann zweigt eine Straße ab in das Radautal. Auf dem unscheinbaren Flüsschen Radau wurde in früheren Jahrhunderten sogar Holz geflößt. Die abzweigende Straße dient in erster Linie der Betreuung der Eckertalsperre und der Forstwirtschaft. Die Wanderung folgt dieser Straße, bis sie für den allgemeinen Verkehr gesperrt ist. Autoreisende können entweder auf dem Parkplatz gleich nach der Abzweigung von der B4 ihren Wagen abstellen oder sie fahren bis zu dem zweiten Parkplatz an der Sperre (Verkehrsschild). Dann verkürzt sich die Tour um knapp zwei Kilometer (Hin- und Rückweg zusammen). Der Ausgangspunkt am Taleingang bringt die Möglichkeit mit, die am Wegesrand liegende Schwefelquelle zu besuchen. Das markant riechende Wasser kann beruhigt getrunken werden.

Am zweiten Parkplatz gibt es dann zwei Möglichkeiten für den Anstieg, die Straße und einen Waldweg. In der Regel wird der schönere und nicht asphaltierte Waldweg gewählt, der sich vorbei an einer Hinweistafel links von der Straße nach Nordosten bewegt. Hier kommt der erste richtige Anstieg. Parallel zum Lohnbach kreuzt der Weg mehrere Wege, bis er wieder auf die Straße trifft. Der Straße folgt die Wanderung dann fast bis zur Talsperre. Unterwegs gibt es eine Wegegabelung mit einer Schutzhütte, die Luisenbank. Hier führt der Weg nach rechts. Nun geht es einige hundert Meter bergab und es öffnet sich (durch eine Holzfällung) ein erster Blick auf die 1942 in Betrieb genommene Eckertalsperre. Nach einer Linkskehre zweigt von der Straße ein Weg ab. Die Straße führt an den Fuß der Staumauer zu den dortigen Betriebsgebäuden der Harzwasserwerke, der Weg führt auf die Staumauer. Die Wanderung führt über den Weg nach etwa dreihundert Metern auf die Staumauer.

Ein besonderer Ort der Deutsch-Deutschen Geschichte

Mit der Staumauer wird ein besonderer Ort der Deutsch-Deutschen Geschichte betreten. Die Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten verlief in der Mitte des Stausees und somit auch mitten durch die Staumauer. Vom Westen her konnten Besucher bis an die Grenze gehen. Dort trafen sie dann auf eine Mauer mit Stacheldraht und den obligatorischen Schwarz-Rot-Goldenen Grenzpfosten der DDR sowie ein Warnschild des Bundesgrenzschutzes. Mit Hinweistafeln und Bildern wird heute der Ort und die Geschichte der Talsperre erklärt. Auf der Ostseite der Sperrmauer steht die erste Stempelstelle der Harzer Wandernadel.

Auf der anderen Seite führt die Tour dann in einstmaliges Sperrgebiet, in das nur die Grenztruppen der DDR durften. Ein zeitlicher Blick zurück auf die Grenzsperren mit Stacheldrahtzäunen, Minenfeldern und Selbstschussanlagen sowie dem Schießbefehl für die Soldaten der Grenztruppen genügen, um die Menschenverachtung dieses Systems zu erkennen. Bei aller berechtigten Kapitalismuskritik kann eine menschliche Alternative kaum so aussehen!

Auf einem schönen Waldweg wird die Wanderung nun entlang der Uferböschung des Stausees fortgesetzt. Nach etwa drei Kilometern zweigt der Weg nach links ab und führt bergan in etwas Entfernung vorbei an ein paar Mauerresten zum Rangerpunkt Scharfenstein. Der Scharfenstein ist ein großer Felsen einige hundert Meter nördlich oberhalb dieses Wegepunktes. Zugleich trägt ein naher Umgebungspunkt, die zuvor passierte Ruine, diesen Namen. Dort war bis zum Zweiten Weltkrieg eine Alm für Vieh aus den Orten am nördlichen Harzrand. Heute tragen außerdem der Informationspunkt der Nationalparkverwaltung und die angegliederte Selbstbedienungsgaststätte diesen Namen. Der Informationspunkt (Rangerpunkt) wird von der Nationalparkwacht, auch Ranger genannt, betrieben. Hier steht eine weitere Stempelstelle der Harzer Wandernadel.

Betongitterplatten

In südlicher Richtung geht es von hier auf dem Kolonnenweg langsam bergauf zum Brockengipfel. Der Kolonnenweg ist bis hinauf zum Gipfel mit Betongitterplatten belegt. Dieser für das Wandern nicht so angenehme Belag diente den Grenztruppen der DDR zur motorisierten Fortbewegung. Auf dem Kolonnenweg wird der größte Teil der Steigung dieser Tour überwunden. Entsprechend steil sind einige Passagen, was besonders auf dem Fahrrad spürbar wird. Durch einen vergleichsweise niedrigen Fichtenwald geht es immer weiter hinauf. Etwa auf einer Höhe von 750 Metern trieft der Heinrich-Heine-Weg aus Ilsenburg kommend auf den Kolonnenweg. Eine Tafel erinnert an die Besteigung des Brockens durch den berühmten deutschen Dichter Heinrich Heine im Jahr 1824. Der Brocken war für manch bekannte Persönlichkeit das Ziel. Der eine oder andere Name wird im Verlauf der weiteren Tour noch auftauchen.

Weiter geht es über den Kleinen Brocken, wo die 1000-Meter-Marke überschritten wird. Das Brockenmassiv besteht aus insgesamt drei Gipfeln, dem Brocken als höchstem Punkt, dem Kleinen Brocken mit 1018 Metern und dem Königsberg mit 1034 Metern über NN. Außerdem gibt es noch die Heinrichshöhe mit 1040 Metern über Normal Null. Es folgt ein seichterer Abschnitt. Die nächste Steigung führt dann zur Passage der Brockenbahn, die den Gipfel einmal umkreist, bevor sie ihn am Brockenbahnhof erreicht. Ein Stück weiter oben kreuzt der Kolonnenweg den Brockenrundweg, auf dem der Gipfel auf gut zwei Kilometern Länge umrundet werden und die Aussicht in alle Himmelsrichtungen genossen werden kann. Noch ein paar Höhenmeter und der Gipfel ist erreicht. Hier versammeln sich einige vom weiten deutlich sichtbare Bauten. Neben den Gebäuden und Antennen der Deutschen Telekom gibt es hier das Brockenhotel, Ausstellungsräume des Nationalparks Harz, ein Restaurant, eine Gaststätte, den Brockenbahnhof mit einer weiteren Gaststätte. Nach der Grenzöffnung gab es zunächst nur diese Gaststätte im Bahnhof. Weiter gibt es noch ein Gebäude des Deutschen Wetterdienstes, welches ganzjährig besetzt ist. Und es gibt einen unscheinbaren kleinen aus Felssteinen gemauerten Unterschlupf, das Wolkenhäuschen als dem ältesten Gebäude auf diesem Berg. Hier steht auch die Stempelstelle der Harzer Wandernadel.

Schnaufende Dampflokomotive

Auf der Südseite der Gebäude ist das eigentliche Gipfelplateau mit der bereits beschriebenen Höhenmarke. An Wochenenden und auch an vielen Tagen der Urlaubssaison tummeln sich auf dem Brocken nicht selten mehr Menschen als in der Fußgängerzone einer Kleinstadt. Geschuldet ist dies der Brockenbahn, die mit alter Dampftechnik die meisten Menschen hier herauf befördert. Der Anblick der schnaufenden Dampflokomotive ist durchaus beeindruckend. Und eine Fahrt mit dieser historischen Schmalspurbahn ist ein Erlebnis. An manchen Tagen ist aber auch auf den Wanderwegen zum Brocken hinauf ein Gedränge. Je nach Vorliebe sollte die Planung der eigenen Tour darauf also achten.

Goethes Harzreise

Nach einer mehr oder weniger langen Rast auf dem Gipfel geht es östlich unterhalb des Bahnhofs auf der asphaltierten Brockenstraße wieder bergab. Die Brockenstraße führt zum schmucken Luftkurort Schierke südöstlich am Fuß des Brockens gelegen. Nach vielleicht einem Kilometer Gefälle verläuft die Straße in einer scharfen Linkskurve. Hier zweigt der 2008 bis 2009 auf diesem Abschnitt vollkommen sanierte Goetheweg nach Westen ab. Bis zur Sanierung war dies ein teilweise schwieriger Wandersteig, der über Felsen und Holzstege führte. Nun wurde der Weg planiert und geschottert. Anspruchsvolle Wanderer trauern dem alten Steig etwas hinterher. Wie der Name schon sagt, wird mit diesem Weg an die Besteigung des Brockens durch den wohl bekanntesten deutschen Dichter Johann Wolfgang von Goethe erinnert. Der Goetheweg ist nicht identisch mit dem tatsächlichen Weg seines Aufstiegs. Ein schöner Roman, der Goethes Harzreise im Jahr 1777 beschreibt, ist das Buch Winterströme von Bernd Wolff[1]. Goethe war mehrfach im Harz und hat sich hier zum Beispiel auch für seinen Faust inspirieren lassen.

Der Goetheweg verläuft zunächst gut zwei Kilometer neben der Brockenbahn, die auf dem Weg nach Schierke ist. Unterhalb des Königsberges verlässt der Goetheweg die Bahn wieder nach Westen. Steil geht es von hier einige hundert Meter bergab auf den Steifen der ehemaligen Grenzsicherungen der DDR.

Menschenverachtende Grenzanlage

Vor gut zwanzig Jahren gab es hier, wie bereits angesprochen, noch Zäune, Stacheldraht und Selbstschussanlagen sowie bewaffnete Streifen der DDR-Grenztruppen. Da mit dem zeitlichen Abstand an mancher Stelle Tendenzen zur Verklärung dieses Teils deutscher Geschichte erkennbar sind, wird dies an dieser Stelle nochmals angesprochen. Über manches Detail, wie die DDR organisiert war, kann vielleicht diskutiert werden. Und mit dem Fall des real existierenden Sozialismus hat sich der Kapitalismus sicher auch nicht als das einzig wahre System herausgestellt (im Gegenteil, aber das soll nicht Thema dieses Beitrags sein). Unbestreitbar entlarvt aber ein menschenverachtendes Bauwerk wie diese Grenzanlage, an der unzählige Menschen ihren Tod gefunden haben, das ganze dahinter stehende System als menschenverachtend! Eine totalitäre Herrschaft bleibt totalitär, auch wenn Anti-Faschismus auf der Fahne steht. Daran muss an dieser Stelle erinnert werden.

Ein wenig märchenhaft

Am Ende der Steigung zweigt ein Weg Richtung Torfhaus ab. Geradeaus führt der Weg zum Dreieckigen Pfahl (früher von Westdeutschland aus gesehen ein Endpunkt vor der Grenze zur DDR) und von dort nach Oderbrück oder zum Soldatenfriedhof. Auch hier ist wieder eine Stempelstelle der Harzer Wandernadel. Diese Tour folgt dem Weg nach Torfhaus (und somit auch dem Goetheweg) bis zum Eckersprung. Eine Schutzhütte, Toiletten und Bänke sowie eine weitere Stempelstelle der Harzer Wandernadel bilden einen Rastpunkt. Hier, im Quellbereich der Ecker, verlässt diese Tour wieder den Goetheweg nach rechts (nördlich). Auf einem schmalen Pfad geht es durch das schöne obere Eckertal langsam hinab. Vor allem im Mai und Juni, wenn das frische Grün überall noch sichtbar ist, wirkt dieser Weg ein wenig märchenhaft und phasenweise entsteht der Eindruck, irgendwo in Skandinavien zu sein. Fernab der Touristenströme kann hier die Ruhe der Nationalpark-Natur genossen werden.

Denkmal erinnert an Dummheit und Unmenschlichkeit

Weiter führt dieser etwas abgeschieden gelegene Weg auf eine feste Forststraße zum Skidenkmal. Das Denkmal erinnert an das traurige Schicksal der in den beiden Weltkriegen durch Dummheit und Unmenschlichkeit ums Leben gekommene Soldaten und ist eines der vielen Denkmäler dieser Art im Harz und auch anderswo. Neben einer Schutzhütte befindet sich hier auch wieder eine Stempelstelle der Harzer Wandernadel, die letzte auf dieser Tour. Von hier geht es nach rechts (östlich) bergab zum Pionierweg, der dann nach Norden zum Eckerstausee führt. Seinen Namen hat der Pionierweg, weil der Weg von einer Pionierkompanie 1895 angelegt wurde. Ein Gedenkstein erinnert daran. Am Westufer des Stausees geht es weiter durch eine immer noch schöne Landschaft. Der Wald rund um den Stausee bietet einige Möglichkeiten für kleinere und ausgedehntere Wandertouren. Zur Sperrmauer kann nach gut einem Kilometer rechts ein schöner Pfad gewählt werden. Diese Tour bleibt auf der Forststraße und überwindet die vorletzte Steigung. Auf der anderen Seite des Bergrückens trifft dieser Forstweg auf die Straße zur Talsperre. Ab diesem Punkt geht es auf demselben Weg zurück zum Ausgangspunkt, auf dem es zu Beginn der Tour zur Talsperre ging.

Nach etwa 24 Kilometern und einigen hundert Höhenmetern ist diese Tour zu Ende. Die meisten Wanderer und Wanderinnen werden wohl geschafft aber auch zufrieden sein. In der nahe Gaststätte am Radauwasserfall kann nun je nach Verfassung noch zum Beispiel ein kühles Bier getrunken werden und auch eine gute Mahlzeit den Tag abschließen.

[1] Wolff, Bernd: Winterströme: Goethes Harzreise. Erzählung. Berlin: Verlag der Nation, 1990 [(1) 1986].

Ein Ski-Langlauf im Harz

Es geht immer was –

ein Ski-Langlauf im Harz

Aufgebrochen, um im winterlichen Harz eine Ski-Tour zu unternehmen, haben wir uns bei strenger Kälte in einer Fußgängerzone wiedergefunden und dennoch viel Spaß gehabt.

Bad Harzburg. (re) Urlaub ist doch wirklich etwas Schönes. Kein Radio beendet mitunter unsanft den Schlaf. Das Frühstück wird in aller Ruhe und mit Genuss zu sich genommen. Und für den Hinweis des Radiomoderators auf die erste Arbeitswoche im Jahr gibt es nur ein müdes Lächeln. Die Sonne scheint, es wird sicher wieder ein schöner Tag! Die Verabredung steht. Am Montag wurde bei schönstem Winterwetter von Oderbrück aus der Sonnenberg besucht. Die Skilanglauf-Tour war landschaftlich reiz- und sportlich anspruchsvoll. Doch die Rast mit dem Scharm vergangener Jahrzehnte und mit einer bestenfalls interessanten Variante einer Currywurst warf die Frage nach dem Engagement der Harzer Gastronomie auf. Also sollte es zu „neuen“ Zielen gehen.

Skiträger

Am heutigen Mittwoch geht es wieder in den Harz. Wer Urlaub hat, kann in aller Ruhe warten. Wer Glück hat, kann das Konzernbüro schnell wieder verlassen. Ein Blick ins Internet, eine kurze Absprache, das Ziel steht fest. Gastronomisch und landschaftlich vielversprechend soll es zu den Rabenklippen gehen, oberhalb des Eckertals. Am späten Vormittag ist alles ins Auto geladen. Von Wolfenbüttel aus sind wir schnell in Bad Harzburg und parken in der Stübchentalstraße. Als wir aussteigen, wundern wir uns, wie eisig kalt es doch ist. Mit heißem Tee im Rucksack und den Skiern in der Hand geht es unverdrossen zum Waldesrand. Erstaunt lächelnd grüßen uns die Einheimischen, skeptisch blicken wir auf die verharschte Schneedecke, schnallen aber wacker an. Einige hundert Meter stapfen wir durch das ungespurte Weiß, dann finden wir uns an einem steilen Trampelpfad im Schnee wieder. Die Vernunft besiegt den Starrsinn und wir schnallen ab. Aus der Skiwanderung wird eine Ski-Wanderung. Und wir werden zu Skiträgern. Ski und Stöcke in der Hand marschieren wir über uns selbst lachend im Stübchental weiter bergauf (Bild 1).

Fußgängerzone

An der Säperstelle nahe dem Sachsenbrunnen stoßen wir auf breite und geräumte Forststraßen. Eine kurze Rast mit heißem Tee, dann sind die Ski wieder unter den Füßen. Tapfer kämpfen wir uns auf dem glatt geschobenen Weg voran, immer wieder vorbei an munteren Fußgängern. Wo in der Karte keine Loipe verzeichnet ist, da ist eben auch keine Loipe, stellen wir grinsend fest. Es ist wohl doch eher eine „Fußgängerzone“ hier, die bestens für bequeme Winterwanderungen geeignet ist (Bild 2). Der herrliche Sonnenschein und der frei Blick auf den Brocken entschädigen uns aber schon bald für die Strapaze. Bilderbuchwetter verführt zum Fotografieren. Vorbei an der Tiefen Kohlstelle geht es dann heiter weiter.

Wilde Katzen und schwarze Vögel

Ein paar Kilometer nur, dann stehen wir vor einer entschlossen drein blickenden großen Katze. Doch wir haben Glück, ein Zaun schützt uns vor dem wilden Tier (Bild 3). Wir sind am Luchsgehege des Nationalparks Harz. Wieder ein paar Fotos, dann geht es zu schwarzen Vögeln. Von den Rabenklippen aus genießen wir erneut die helle Sonne und den schönen Blick auf den höchsten Harzberg (Bild 4). Nun sind es nur noch wenige Meter zum Erkundungsziel. Hat die Harzer Gastronomie vielleicht doch besseres zu bieten? Die Internetseite im Kopf und andere Waldgaststätten in guter Erinnerung treten wir zuversichtlich ein in das Gasthaus auf den Rabenklippen (Bild 5). Und, siehe da. Wir werden nicht enttäuscht! Im gemütlich hölzernen Ambiente einer Berghütte setzen wir uns unweit eines warmen Kaminfeuers in den gut besuchten Gastraum. Auch hier scheint die Sonne und grüßt der Brocken. Die reichliche Auswahl regionaler Spezialitäten auf der Speisekarte macht uns die Auswahl nicht leicht. Soll es ein Wildbraten sein oder doch lieber der zünftige Leberkäse? In jedem Fall muss erst mal der Durst gelöscht werden. Eine freundliche Bedienung versorgt uns mit kaltem Getränk und warmer Speise. Ein köstlicher Likör zum Ausklang, dann heißt es Abschied nehmen. Schweren Herzens treten wir wieder hinaus in die Kälte.

Ein Kreuz

Während der Luchs gefüttert wird, schnallen wir wieder an. Weiter geht es auf glatten Forststraßen. Vorbei an einer Förstertränke laufen wir hin zu einem Uhlenkopf. Doch der geplante Weg ist nicht befahrbar. Also suchen wir neue Wege. Das Kreuz des deutschen Ostens (Bild 6) steht mahnend und zugleich fragwürdig im Wald. Nun geht es, endlich auch mal gleitend, zurück zur Säperstelle. Eine letzte Pause, dann werden wir wieder zu Skiträgern. Tapfer steigen wir bergab, gleiten die letzten Meter dann aber doch noch wieder zurück zum Auto. Zwölf Kilometer zeigt das GPS-Gerät, und der Körper bestätigt das. Durchgefroren und etwas erschöpft aber zufrieden steigen wir wieder in den Wagen. Ein paar Stunden waren wir dem Alltag entflohen. Und den Glauben an die Harzer Gastronomie haben wir auch zurück erlangt.

Ein Abend im Advent

Ein Abend im Advent

Eine besinnliche Erzählung aus der Weihnachtszeit

von Rainer Elsner

Veröffentlicht im Ostfalen-Spiegel – Wolfenbüttel im Dezember 2010

Als PDF

Die Dunkelheit der herannahenden Nacht hat das spärliche Licht des Tages bereits verdrängt, als der dreizehnjährige Tom mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Lisa an der Bushaltestelle ankommt. Die Kinder waren bei einer Weihnachtsfeier ihres Sportvereins. Seit den Morgenstunden fallen ohne Unterlass weiße Flocken vom Himmel. Langsam verwandelte der Schnee das triste Grau des Novembers in das strahlende Weiß des Dezembers. Überall in den Fenstern und an den Häusern glänzen die Lichter des Advents. Auch die Augen von Tom und Lisa glänzen beim Anblick der weiß-goldenen Pracht.

Während die beiden Kinder auf den Bus warten, quält sich der späte Feierabendverkehr langsam vorbei. Die glatten Straßen rauben den Fahrern die Freude an der Schönheit dieses Abends. Aber wer sich nicht auf das Fahren konzentrieren muss, wird von den Gedanken an das nahe Weihnachtsfest ergriffen. Es vergeht eine halbe Stunde, aber kein Bus ist in Sicht. Tom wird langsam unruhig. Zuerst toben beide noch im frischen Schnee, doch nun bemerken sie langsam die Kälte. Besonders Lisa fängt an, sich über kalte Füße zu beschweren.

„Warum hast du bloß dein Handy vergessen?“ stichelt Lisa ihren Bruder, „jetzt müssen wir hier erfrieren, weil wir Mama nicht anrufen können“.

Der stimmt ihr innerlich zu, will sich diese Blöße aber nicht geben und sagt deshalb unfreundlicher, als er es eigentlich wollte:

„Reiß du dich doch einfach mal zusammen! Kaum wird es ungemütlich, da muss die kleine Prinzessin schon Meckern. Aber Meckern hilft nicht!“

Das ist für Lisa zu viel. Immer muss ihr Bruder sie spüren lassen, dass er doch schon so groß und ernst ist. Dabei ist ihr einfach nur kalt! Eingeschnappt dreht sich Lisa um und setzt sich stumm auf die eiskalte Bank im Haltestellenhäuschen. Tom schaut zu seiner Schwester und bekommt ein schlechtes Gewissen. Sie hat ja Recht. Wenn er sein Handy nicht zu Hause vergessen hätte, könnten sie jetzt ihre Mutter anrufen und sich abholen lassen. Tom überlegt und sagt schließlich:

„Lisa, wir gehen zu Fuß.“

Lisa reagiert nicht, sondern schaut weiter stumm in den frisch gefallenen Schnee.

„Lisa, du hast Recht“ gibt er klein bei, „aber wir müssen uns bewegen“.

„Aber das ist doch viel zu weit“ erwidert Lisa bestürzt und springt auf.

„So weit ist das gar nicht, und wenn wir hier noch länger stehen, erfrieren wir wirklich“ erklärt Tom seiner Schwester.

„Aber ich will nicht den ganzen weiten Weg laufen“ rebelliert das Mädchen und dreht sich wieder bockig weg.

Behutsam fasst Tom nun seiner kleinen Schwester auf die Schulter und sagt ruhig:

„Lisa, entschuldige bitte, dass ich eben so schroff war zu dir! Vielleicht können wir ja von irgendwo Mama anrufen. Dann holt sie uns bestimmt ab. Aber lass uns erst mal ein Stück gehen.“

Lisa ist zwar gerne schnell eingeschnappt, aber sie ist nicht dumm. Wenn auch widerwillig, folgt sie ihrem großen Bruder. Langsam gehen die Kinder auf dem verschneiten Bürgersteig in Richtung Stadtmitte. Ihr Ziel liegt auf der anderen Seite der kleinen Stadt. Sie sind noch nicht weit gekommen, als sie vor einem kleinen Fachwerkhaus eine vermummte Gestalt sehen. Im Halbdunkel räumt das irgendwie unheimlich wirkende Wesen den Gehweg vom Schnee frei. Das erscheint aber eigentlich sinnlos, denn der Schnee bedeckt sofort wieder die gerade befreite Fläche. Etwas ängstlich gehen die Kinder an der Gestalt vorbei, denn sie ähnelt in gewisser Weise der Hexe aus Hänsel und Gretel – zumal vor dem kleinen gedrungenen Häuschen. Auch dem großen Tom ist irgendwie mulmig zu mute. Als sich die Kinder schon fast in Sicherheit wiegen, spricht die Hexe sie an:

„Ach Kinder, was geht ihr den hier so alleine durch die Kälte?“

Die Stimme klingt so gar nicht nach einer bösen alten Hexe. Sie klingt zwar etwas zitternd aber warm und liebenswürdig. Mutig drehen sich die Kinder um und schauen in die freundlichen Augen einer wohl schon sehr alten Frau.

„Na, ihr fürchtet euch doch nicht vor mir alten Frau?“ spricht sie lächelnd weiter.

„Nein, aber wir wollen schnell nach Hause kommen“ antwortet Tom etwas an der Wahrheit vorbei redend. Lisa steht stumm neben ihrem Bruder und hat seine Hand ergriffen.

„Ihr braucht aber keine Angst haben vor mir“ sagt die alte Frau, die die Furcht vor allem in Lisas Augen sofort erkennt, „ich sehe zwar vielleicht wie eine alte Hexe aus dem Märchen aus, aber ich könnte wirklich keiner Menschenseele etwas antun!“

„Können wir bei ihnen vielleicht unsere Mutter anrufen, damit sie uns hier abholt? Der Bus ist nicht gekommen“ fragt Tom nun, der sofort bemerkt, dass es kindisch war, sich vor dieser alten Frau zu fürchten.

„Aber sicher. Kommt, wir gehen erst mal rein. Dort ist es warm“ antwortet die Frau.

Mit dem Schneeschieber in der Hand geht sie voraus und die Kinder hinterher. In den Fenstern des Hauses stehen kleine Lichtbögen und aus dem Schornstein steigt Rauch in den verschneiten Himmel. In der weihnachtlich geschmückten Diele schaltet die Frau eine Lampe an und zeigt Tom und Lisa die Garderobe, wo sie ihre Kleidung aufhängen können. Dann zieht sie die dicken Sachen aus, die sie vor der Kälte geschützt haben. Und auch die Kinder ziehen ihre Jacken und Schuhe aus. Die Frau zeigt Tom ihr Telefon. Der ist zunächst irritiert, denn der große schwarze Apparat hat einen viel zu schweren Hörer und statt Tasten ein Rad mit Löchern, unter denen die Zahlen 0 bis 9 zu sehen sind. Die Frau sieht das und erklärt ihm die Funktionsweise der alten Wählscheibe. Zum Glück erreicht Tom seine Mutter auch sofort. Sie hat sich schon Sorgen gemacht und fährt umgehend los. Aber das kann dauern, die Straßen sind ja glatt.

„Kommt Kinder, wir gehen in die gute Stube, dort ist es gemütlicher“ fordert die alte Dame Lisa und Tom auf und geht wieder voraus.

Sie betreten einen in ein gemütliches Licht getauchten Raum mit alten Möbeln und vielen Bildern an den Wänden. Auf Kommoden und Regalen flackern Kerzen, in den Fenstern stehen leuchtende Schwibbögen. An einer Seite des Raumes steht eine alte Schrankwand mit einem Regal in der Mitte, in welchem unzählige vor allem alte Buchrücken zu sehen sind. Und an der Wand gegenüber den Fenstern befindet sich neben der Tür ein Kamin, in dem ein Feuer lodert. Vor dem Kamin steht ein kleiner Tisch und um ihn herum gruppiert zwei Sessel und ein Sofa. Der Raum ist wie der Hausflur weihnachtlich geschmückt.

„Wärmt euch schon mal am Feuer, Kinder. Ich mache uns schnell noch heißen Tee. Und hier habt ihr eine Decke, mit der ihr eure Beine und Füße wärmen könnt“ sagt die Frau zu Tom und Lisa. Sie reicht den Kindern die Decke und verlässt die Stube wieder.

Die Kinder setzen sich auf das Sofa und blicken fasziniert in das Feuer. Langsam breitet sich wieder Wärme in ihren Körpern aus. Zunächst können Lisa und Tom ihre Augen nicht vom Feuer lösen. Doch dann schauen sie sich in dem Raum um. Alles, Möbel, Wände, Bilder ist so gar nicht modern, ganz anders als zu Hause. Aber überall scheinen kleine Geschichten verborgen zu sein. Deutlich spüren sie, wie das gelebte Leben der alten Frau aus den Dingen spricht. Zwei Bilder in Schwarzweiß, die auf dem Kaminsimms stehen, fesseln die Kinder besonders. Auf einem Bild ist eine junge schöne Frau mit zu einem Haarkranz geflochtenen blonden Haaren unter einem Brautschleier zu sehen. Sie steht im weißen Kleid an der Seite eines Soldaten mit Schirmmütze und Säbel. Beide schauen lächelnd in die Kamera. Und ein zweites Foto steht daneben, wo wohl der gleiche Soldat in sauberer Uniform mit geflochtenen Schulterklappen freundlich, aber auf eigentümliche Weise ernst im Portrait abgebildet ist. Dies Bild ist an einer oberen Ecke mit einem schwarzen Band geschmückt.

„So Kinder, jetzt wird euch richtig warm werden“ sagt die Frau, während sie den Raum mit einem Tablett betritt.

Sie stellt die Teekanne und Tassen auf den Tisch und gisst die dampfenden Flüssigkeit in die Tassen. Auch ein Teller mit Plätzchen steht auf dem Tablett. Noch immer etwas ausgekühlt trinken die Kinder vorsichtig den heißen und süßen Tee. Nachdem alle ihre Tasse wieder auf den Tisch gestellt haben, sagt die Frau zu den Kindern:

„Ich bin die Sophia, und wie heißt ihr zwei Kleinen denn nun eigentlich?“

„Tom“ antwortet Tom etwas mürrisch, da er ja nun wirklich nicht mehr klein ist.

„Lisa“ sagt Lisa und lächelt.

„Dürfen wir sie etwas fragen?“ fragt Tom die alte Dame, nachdem er sich wieder beruhigt hat. Sie hat schräg neben den Kindern in einem der alten Sessel Platz genommen.

„Ja Tom, das dürft ihr, aber ihr braucht mich nicht mit Sie ansprechen. Da ich euch Kinder mit Du anspreche, dürft ihr kleinen Menschen auch mich mit Du anreden“ erklärt Sophia mit freundlicher Stimme.

„Bist du das da auf dem Foto?“ fragt Tom und zeigt zum Kamin.

Sophia schaut kurz hin und sagt dann mit plötzlich leiserer Stimme:

„Ja, das war die schönste Zeit meines Lebens. Aber es war uns nur eine kurze Zeit vergönnt. Und diese schöne Zeit ist auch schon sehr lange her.“

Einen Moment lang wird es still im Raum. Nur das Feuer knistert. Dann steht Sophia auf und legt Holz nach. Tom fasst erneut allen Mut zusammen und fragt:

„Ist der Soldat dein Mann, habt ihr da geheiratet?“

„Ja, das ist mein geliebter Ludwig, der fesche Leutnant“ antwortet Sophia mit einem Lächeln aber zitternder Stimme, „das Foto zeigt einen der glücklichsten Momente in unserem Leben.“

„Und warum hat das andere Foto diese schwarze Ecke?“ fragt Lisa.

„Das macht man, wenn ein Mensch gestorben ist“ antwortet Sophia mit noch leiserer Stimme.

„Warum ist dein Ludwig denn gestorben?“ fragt Lisa in ihrer noch kindlichen Unschuld weiter.

Sophia atmet tief ein, schaut die Kinder mit ernster Miene an und antwortet dann:

„Weil wir Menschen leider sehr dumm sind und unfähig, wirklich menschlich zu sein. Ihr seid ja noch sehr jung. Aber ich denke, ein Mensch kann es nicht früh genug erfahren, worauf es ankommen in diesem Leben!“ Mit bebender Stimme fragt sie: „Wollt ihr unsere, Ludwigs und meine, Geschichte hören?“

Der Klang in Sophias Stimme hat die Kinder betroffen gemacht, aber ihre Andeutungen haben auch ihre Neugier geweckt. Die Kinder schauen Sophia mit großen Augen an und antworten leise:

„Ja Sophia, bitte erzähle uns eure Geschichte.“

„Gut, merkt euch bitte alles, was ich euch erzähle. Es wird leider viel Trauriges dabei sein. Aber ich werde euch auch sehr Schönes berichten“ sagt Sophia zu Tom und Lisa und lehnt sich in ihren alten Sessel zurück.

A

„Es war im Frühling 1936. Ich ging noch zur Schule, war auf dem Weg zum Abitur. Eines Abends stand dann plötzlich dieser fesche junge Offizier vor mir. Ich kam mit ein paar Freundinnen aus dem Kino. Wir scherzten und lachten und ich rempelte ihn ausversehen an. Schick sah er aus in seiner schmucken Uniform mit seinen silbernen Leutnantsklappen auf den Schultern und seiner Schirmmütze auf seinem kantigen Kopf. Er war kein auffallend schöner Mann, aber er sah stattlich aus in der Uniform und sein Blick strahlte viel Wärme aus. >Verzeihung, mein Fräulein!< sagte er höflich und salutierte vor mir.

Ich erstarrte und war wie gefangen von ihm. Es war ein schönes, völlig aufheiterndes Gefühl, was mich plötzlich ergriff – vielleicht so, als ob nach einem vernebelten Morgen plötzlich die Sonne scheint. Obwohl ich mit meinen neunzehn Jahren noch fast ein Kind war, wusste ich sofort: Das ist er! Ich kann euch nicht sagen warum, aber ich wusste es – so erscheint es mir zumindest rückblickend bis heute. In diesem Moment vermochte ich dies heitere, erhebende Gefühl noch nicht zu deuten. Es war nur einfach schön! Der Offizier stellte sich als Leutnant Ludwig Minne vor, Panzergrenadierbataillon sowieso. Ich sagte nur, dass ich Sophia heiße. Dann bekam ich es mit der Angst zu tun. Schnell drehte ich mich weg. Meine Freundinnen griffen meine Hand und übertrieben lachend stürmten wir davon zur Straßenbahnhaltestelle.“

Sophia macht eine Pause und trinkt einen Schluck Tee. Weihnachtlicher Glanz umgibt sie. Die Kinder schauen sie gebannt an.

„Und dann, wie ging es weiter?“ fragt Lisa ungeduldig.

„Nur ruhig Blut junge Dame“ erwidert Sophia und rückt sich im Sessel zurecht.

„Es vergehen einige Tage. Der junge, fesche Leutnant, wie wir Mädchen ihn genannt haben, geht mir aber nicht aus dem Sinn. In der Schule kann ich mich nicht konzentrieren und nachts kann ich nicht schlafen. Ich bin verliebt. Das wird mir immer deutlicher bewusst. Ihr müsst wissen, Kinder, damals war alles noch nicht so offenherzig zwischen Mann und Frau, wie das heute meist der Fall ist. Und wir waren auch nicht so aufgeklärt und fast schon frühreif, wie das heute häufig der Fall ist. Was heute möglicherweise schon zu früh und zu viel passiert, das war damals viel später dran und vieles auch nicht statthaft oder gar erlaubt.“

Sophia macht wieder eine Pause.

„Aber ich will die Geschichte nicht zu sehr in die Länge ziehen. Eure Mutter kann ja jeden Moment hier sein. Kurz, irgendwann fasste ich allen Mut zusammen und ging zu seiner Kaserne. Irgendwann kam er auch tatsächlich heraus, aber er ging mit einem Kameraden plaudernd an mir vorbei – ohne mich wahrzunehmen, wie ich glaubte. Was ich alles anstellen musste, um ihn immer wieder zu sehen und wie umständlich unser Kennenlernen verlief, will ich um der Kürze willen weglassen. Irgendwann blieb er stehen und sprach mich auf das Kino an. Er begann damit, mir den Hof zu machen und mein Herz schien zu fliegen. Ludwig führte mich zum Kaffee aus und ins Theater. Ich konnte es kaum erwarten, dass er sich wieder meldet und wir wieder etwas gemeinsam unternahmen. Auf dem Weihnachtsmarkt im Advent 1936 gestand er mir schließlich seine Liebe und ich ihm die meine.“

„Habt ihr euch dann geküsst?“ fragt Lisa aufgeregt.

„Nein, oder ja, aber nur ganz kurz und verlegen. Wie gesagt, damals war alles anders als heute!“ beantwortet Sophia Lisas Frage.

„Und der Ludwig lief die ganze Zeit in dieser schicken Uniform herum?“ fragt Tom fasziniert.

„Ja, das war damals eine Zeit der Uniformen, Kinder. Das alte Preußen lebte in diesen Uniformen noch immer und alle hatten Respekt vor einem Offizier. Entsprechend stolz war ich junges Ding damals, wenn ich mit meinem Ludwig durch die Straßen flanierte. Wir Mädchen träumten alle von einem stolzen Ritter oder eben von einem Offizier mit Säbel und Portepee. Wir hatten ja keine Ahnung, welche grausame Zukunft sich hinter diesen schmucken Uniformen versteckte“ erklärt Sophia.

„Aber ich will später auch Soldat werden, wie mein Onkel Sebastian. Der ist Kompaniechef bei den Fallschirmjägern“ kommentiert Tom Sophias Worte mit etwas Unverständnis.

„Ach Junge, ich weiß, alle Jungs träumen davon, ein Held zu werden. Aber Helden sterben mitunter sehr früh, zu früh. Oder sie bemerken viel zu spät, dass es nicht sehr heldenhaft ist, Menschen zu töten“ sagt Sophia mit matter Stimme.

„Aber …“ will Tom protestieren.

Doch Sophia führt den Finger an den Mund und gibt ihm zu verstehen, einstweilen zu schweigen:

„Warte erst mal unsere Geschichte ab, Tom.“

„Okay“ sagt Tom wieder leiser und lehnt sich zurück.

„Es war, wie gesagt, die schönste Zeit meines Lebens. Im Frühling 1937 feierten wir Hochzeit. Mein fescher Leutnant war mittlerweile zum Oberleutnant befördert worden. Da ist das Foto links entstanden. Unsere Flitterwochen verbrachten wir in den bayerischen Alpen. Wir waren so verliebt! Ludwig war sehr besorgt um mich, und ich auch um ihn. Und wann immer wir kurz getrennt waren und uns dann wieder sahen, konnten wir in den Augen des anderen die grenzenlose Freude sehen, die er empfand, einfach nur weil es einen gab. Wir brauchten wenig Worte, um uns sicher zu sein, dass wir einander liebten.“

„Schön!“ entfährt es Lisa.

„Ja, das war schön. Aber es dauerte nicht lange, dann sahen auch wir die dunklen Wolken am Horizont. Ein Jahr später wurde Österreich ins Reich geholt, dann brannten im November die Synagogen. Auch wenn Ludwig Soldat war und ich zuvor im BDM, dass man Menschen so etwas nicht antut, war uns beiden bewusst. Doch, wie so viele Menschen damals, glaubten wir, die Zeiten würden auch wieder besser werden.“

„BDM?“ fragt Tom.

Sophia steht auf und schürt im Feuer. Lisa schenkt frischen Tee in alle Tassen.

„Der BDM war der Bund deutscher Mädel“ antwortet Sophia dann, während sie am Kamin hantiert, „das war eine Jugendorganisation der Nationalsozialisten, der weibliche Zweig der Hitlerjugend. Ihr werdet hoffentlich in der Schule noch mehr darüber erfahren, heute würde es meine Geschichte zu sehr in die Länge ziehen.

Doch wieder ein Jahr später bekam der Wahnsinn ein neues Gesicht. Zunächst mit stolzgeschwellter Brust rollte mein Ludwig mit seinen Panzern über die Grenze nach Polen. Der Beruf des Soldaten war es, und ist es übrigens noch heute, Krieg zu führen. Und so waren vor allem die Offiziere froh, sich endlich auf dem Schlachtfeld beweisen zu können. In meinem naiven Denken durchschaute ich die Situation noch nicht, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Für unsere Liebe war das eine harte Prüfung. Wir sahen uns von nun an immer nur wenige Tage, allenfalls Wochen im Jahr. Immer, wenn Ludwig Heimaturlaub hatte. Zunächst gaben wir uns dann immer einfach unserer jungen Liebe hin, Ludwig schenkte mir drei Kinder. Aber mit jedem Heimatbesuch wurde er nachdenklicher und trauriger. Schließlich verbrachten wir unsere wenigen Abende nicht mehr eng umschlungen im Ehebett, sondern in langen Gesprächen. Es ist unvorstellbar, was er mir von der Front berichtet. Das Sterben, das Töten, das Leiden von unzähligen Menschen, grausame Wunden ließen meinen Ludwig nicht mehr richtig schlafen. Dazu kamen noch Verbrechen, die er auch zu sehen bekam. Frauen und auch Kinder wurden erschossen und es hieß, in Polen gäbe es ein Lager, in dem Juden vergast werden. Bei unserem letzten Treffen war mein Ludwig nur noch ein Schatten seiner selbst. Inzwischen war er Oberstleutnant und Bataillonskommandeur in der 6. Armee. Aus der Zeit stammt das andere Foto dort.“

Sophia zeigt auf das Bild mit dem Trauerflor. Die Kinder folgen ihrer Hand schweigend.

„Auf dem Bild sieht man seine Traurigkeit nicht. Da hat er sich zusammengerissen und seine liebenswürdige Seele zum Ausdruck gebracht. Vielleicht wusste er, dass das das letzte Bild sein würde, was ich von ihm haben würde.“

Sophia kommt ins stocken. Tränen kullern über ihre Wangen. Lisa legt aus einem Reflex ihre Hand auf Sophias Knie. Sophia greift nach der Hand und erzählt weiter:

„Ihr habt vielleicht schon von Stalingrad gehört. Mein Ludwig und seine Grenadiere wurden dort im Winter 1942/43 eingekesselt. Als ich von der mörderischen Schlacht hörte, wusste ich, ich würde meinen Ludwig nicht wieder sehen. Im Januar 1943 kam ein junger Leutnant vom Ersatzheer, so fesch und stolz wie einst mein Ludwig, zu mir und sagte, mein Ludwig sei heldenhaft für Reich und Führer gefallen. Da die Kinder hinter mir standen, musste ich mich zusammenreißen. Denn alle fingen sogleich an zu weinen. Dem jungen Offizier sagte ich nur: >Ach Herr Leutnant, wenn sie wüssten< und ließ ihn dann stumm im Flur stehen.

Später am Abend, als die Kinder alle im Bett lagen, und ich sie halbwegs beruhigen konnte, sank ich in unser Ehebett. Hier, wo wir in manch langer Nacht mit so viel Freude unsere Liebe gefeiert hatten, von der wir glaubten, sie würde ewig dauern. Hier, wo wir zuletzt in dunkler Ahnung lange vertraute Gespräche führten und hier, wo mein Ludwig mir gestand, dass Soldat ein böser Beruf ist, hier brach ich in Tränen aus. Und bis zum frühen Morgen konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Erst, als mein Körper auszutrocknen drohte, hörte ich auf mit dem Weinen. Mit dunklen Augen frühstückte ich mit den Kindern und beschloss, meine Kinder werden niemals in irgendeinen Krieg ziehen! Es folgten viele dunkle Wochen und Monate, wo mich der Kummer um Ludwig in einer tiefen Traurigkeit erstarren ließ und immer wieder unverhofft meine Tränen flossen. Nur die Kinder gaben mir noch Kraft, mein Leben nicht aufzugeben. Doch dieser Schmerz sollte sich noch steigern lassen.“

Sophia verstummt und trinkt wieder einen Schluck Tee. Der Raum ist erfüllt von Stille, nur das Feuer im Kamin knistert und die Kerzen ringsum flackern. Schweigsam schauen Lisa und Tom Sophia an und warten, dass die Geschichte weiter geht.

„Als wollte die Welt mich verhöhnen, starb mein ältester Sohn, den wir auch Ludwig genannt hatten, in den Bombennächten des Frühjahrs 1945. Wenig später sollte dieser schreckliche Krieg zu Ende sein. Doch mein Schmerz lebte fort. Hermann, unser mittlerer Sohn, hasste die Britten, weil sie seinen großen Bruder getötet hatten und Anna-Sophia, unser Mädchen, fragte nur, wann kommt Ludwig wieder. Sie konnte nicht wissen, dass mich dies doppelt stach. Denn sie hatte ihren Vater nicht mehr kennenlernen dürfen. Mir aber fehlten nun zwei Ludwigs. Es dauerte lange, bis ich wieder etwas Freude in mein Herz lassen konnte. Noch länger brauchte ich, bis Hermann endlich begriffen hatte, dass die Bomben der Britten zwar ebenfalls nichts Gutes waren, dass wir Deutschen diesen grausamen Krieg aber allein zu verantworten hatten und dass sowieso nicht jeder Engländer oder Amerikaner oder Russe böse war, nur weil wir Krieg gegen diese Länder geführt hatten. War ich anfangs noch genauso dumm fanatisch wie viele meiner Generation, so empfing ich am Ende trotz der Bomben die alliierten Truppen als Befreier.“

Wieder verstummt Sophia. Es ist doch sehr anstrengend für die alte Frau, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Doch vielleicht war dies die letzte Gelegenheit, ihre Erfahrung weiter zu reichen.

„Hast du später wieder geheiratet, Sophia?“ fragt Lisa vorsichtig.

„Nein“ antwortet Sophia ohne zögern, „es gab so manchen Verehrer, ich war schließlich noch jung und auch nicht unansehnlich. Aber ich war für Ludwig geboren worden und wenn die Kinder nicht gewesen wären, ich weiß nicht, ob ich den Krieg überlebt hätte“.

„Aber dann hast du ja noch über sechzig Jahre alleine gelebt“ stellt Tom fest.

„Alleine?“ fragt Sophia, „nein alleine war ich nie. Ich hatte ja die Kinder und später auch Enkel – und ich hatte zum Glück auch einige gute Freunde. Und Ludwig war ja nie wirklich verschwunden, er ist bis heute bei mir. Ich trage ihn in meinem Herzen. Erst wenn ich gehe, wird er mit mir gehen. Manchmal denke ich, ich bin so alt geworden, weil Ludwig so früh gestorben ist. Ich musste einfach zwei Leben leben.“

Sophia verstummt und Lisa weint leise. Tom rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her.

„Das ist wohl doch noch zu schwer zu verstehen für dich, was Lisa?“ fragt Sophia mit ruhiger Stimme.

„Deine“ Lisa korrigiert sich, „eure Geschichte ist sehr traurig aber auch sehr schön, denn du hast deinen Ludwig wohl wirklich sehr geliebt“ antwortet Lisa schluchzend.

„Ja, das habe ich“ bestätigt Sophia Lisas Feststellung, „und wenn dies der einzig denkbare Weg war, auf dem sich unsere Liebe verwirklichen konnte, dann will ich auch keinen anderen gegangen sein – so schmerzhaft dieser Weg auch war“ spricht Sophia weiter.

„Aber warum warst du dir gleich so sicher, dass Ludwig der richtige ist?“ fragt Lisa nun wieder etwas gefasster.

„Das kann ich dir nicht sagen, Lisa. Wahrscheinlich war ich anfangs gar nicht sicher. Ich habe einfach nicht weiter darüber nachgedacht. Ich wusste nur sehr schnell, dass ich ihn liebe. Später, in seinen tiefgründigen Briefen von der Front, hat mir Ludwig immer auch ein paar Verse gedichtet. Am Ende hatte ich eine Sammlung von Aufsätzen über den Sinn des Lebens, die Liebe und unsere Liebe – und ein langes Gedicht über die Liebe. An einer Stelle schrieb er da: >Liebe wird von uns nicht gelenkt, Liebe wird uns geschenkt<. Es gibt also keine Erklärung für die Liebe, Kind.“

Lisa schaut Sophia an und versucht die Worte dieser Frau zu begreifen. Nachdenklich wendet sie ihren Blick dabei dann dem Feuer zu.

„Aber Kind, so sicher du dir deiner Liebe eines Tages auch bist, bewehren muss sie sich im Leben. Und das hält mitunter sehr harte Prüfungen bereit“ spricht Sophia weiter.

Lisa schaut Sophia wieder an und sagt leise „Ja“.

Nun kann Tom sich nicht mehr zurückhalten.

„Aber deine Geschichte stammt aus einer anderen Zeit. Heute sind unsere Soldaten die Guten. Mein Onkel schützt unsere Freiheit in Afghanistan“ bringt er seinen Unmut zum Ausdruck.

Sophia, die von der Reise in ihre Vergangenheit mittlerweile sehr aufgewühlt und auch erschöpft ist, erwidert etwas verärgert:

„So, tut er das?“ Dann wird ihr wieder bewusst, dass sie es noch mit einem Kind zu tun hat und sagt in wieder ruhigerem Ton: „Tom, du bist noch sehr jung. Ich kann verstehen, wenn du meine Geschichte noch nicht ganz begreifen kannst. Und ich weiß auch, dass ihr Jungen immer gerne Soldaten sein wollt. Und sicher ist dein Onkel auch ein ganz lieber Kerl. Mein Ludwig war für mich ja auch der liebste Kerl auf dieser Welt. Und trotzdem ist er in den Krieg gezogen und hat Menschen getötet und zum Töten befohlen.“

„Aber mein Onkel macht sowas nicht, der hilft den Menschen dort“ widerspricht Tom.

„Was ist dein Onkel? Fallschirmjäger? Fallschirmjäger gehören zu den Kampftruppen. Sie lernen nichts anderes, als Menschen zu töten! Aber auch jeder andere Soldat hat als eigentliche Aufgabe das Töten. Auch der Panzerschlosser oder der einen Brunnen bohrende Pionier. Der Beruf des Soldaten ist das Töten und Sterben. Es tut mir leid, Tom. Aber das muss dir bewusst sein, denn sonst wirst du irgendwann so unglücklich, wie es am Ende mein Ludwig war.“

Tom wird wütend und springt auf und ruft:

„Du bist eine böse alte Hexe! Mein Onkel ist kein schlechter Mensch!“

Da springt auch Lisa auf, fast ihren Bruder an der Hand und sagt zu ihm:

„Aber du, wenn du dich nicht augenblicklich entschuldigst. Sophia hat uns ohne Fragen aufgenommen und geholfen. Sie hat viel gelitten in ihrem Leben und du schreist sie an!“

Tom schaut entgeistert seiner Schwester in die Augen, die plötzlich so besonnen und weise redet. Diese Unterbrechung nutzt Sophia, um die Wogen wieder zu glätten:

„Ich habe doch gar nicht gesagt, dass dein Onkel ein schlechter Mensch ist. Ich habe nur gesagt, was der Beruf des Soldaten ist. Viele unserer Soldaten heute sind sicher ganz liebe und friedliche Menschen. Und vielleicht kommen wir auch noch nicht ganz ohne Soldaten aus. Aber das ändert nichts daran, dass unsere Soldaten nichts in Afghanistan zu suchen haben. Und dass die Hauptaufgabe des Soldaten das Töten von Menschen ist – und das Sterben. Kinder, vielleicht erzähle ich euch zu schwere Kost, aber ihr müsst dieses Wissen erlangen und weiter tragen. Die Menschen meiner Generation werden bald alle nicht mehr am Leben sein.“

Sophias Stimme wird nun sehr ernst.

„Es gibt zwei Wege, den menschlichen und den Weg der Macht. Heute scheinen wir wieder den Weg der Macht gehen zu wollen. Deutsche Soldaten sollen in der Welt dafür sorgen, dass unsere Wirtschaft freien Handel betreiben kann. Das ist Imperialismus, Kinder, die Großmachtbestrebung des 19ten Jahrhunderts. Und nun gibt es auch wieder Orden für besonders gute Krieger. Mein Ludwig hatte auch so ein Eisernes Kreuz. Zum Schluss wollte er es am liebsten nicht mehr tragen.“

Sophia stockt der Atem, redet dann aber weiter.

„Irgendwie erinnert mich so vieles heute, wenn bisher auch nur sehr versteckt, an diese schreckliche Zeit. Mit einer Demokratie, die sich den Menschrechten verpflichtet hat, Kinder, hat das fast nichts mehr gemein.“

Als Sophia eine Pause macht, meldet sich Lisa abermals zu Wort. Um die Situation wieder etwas zu beruhigen fragt sie:

„Und wie ging dein Leben nach dem Krieg weiter?“

Sophia, die kurz aufgestanden ist, legt zunächst ein Stück Holz ins Feuer und spricht dann wieder ruhiger weiter:

„Nun, nachdem ich mich mit meiner Situation abgefunden hatte, beschloss ich, mein Leben dem Frieden zu widmen und so vielleicht dem Sterben meiner beiden Ludwigs postum noch einen Sinn zu geben. Zunächst engagierte ich mich in einem Verein für deutsch-französische Freundschaft. Anna-Sophia lerne hier ihren späteren Mann kennen. Beide leben, auch schon in die Jahre gekommen, glücklich in Toulouse. Das steht für einen echten Erfolg und gibt Hoffnung, denn 1914 sahen sich Deutsche und Franzosen noch als verhasste Erbfeinde. In den 1950er Jahren setzte ich mich gegen die Wiederbewaffnung ein, vergeblich, wie ihr wisst. Und in den 60er Jahren gründete ich einen Verein für die deutsch-russische Freundschaft mit. Im kalten Krieg war das aber fast unmöglich.“

Sophia schaut den Kindern, die ihr wieder gebannt lauschen, in die Augen und sagt:

„Kinder, ihr dürft nicht vergessen. Auch die Russen oder die Chinesen oder die Afghanen lieben ihre Kinder wie wir. Sting hat in den 1980er Jahren, als es noch den Kalten Krieg gab, gesungen >The Russiians love their children too<, die Russen lieben auch ihre Kinder. Das bringt es schon fast auf den Punkt. Wir müssen auf die Menschen zu gehen und mit ihnen reden und ihnen nicht nur von der Menschlichkeit erzählen, sondern sie ihnen auch zeigen. Solange der wirtschaftliche Erfolg großer Konzerne aber mehr wiegt als ein Menschenleben, wird es Piraten in Somalia geben und wütende Kinder in Palästina. Das ändert auch keine Bundeswehr. Und in Guantanamo haben wir Menschen im Westen schwer versagt. Das hat uns unglaubwürdig gemacht.“

Wieder macht die alte Frau eine Pause und trinkt einen Schluck Tee. Mit etwas zitternder Stimme redet sie dann weiter.

„Sicher gibt es auch wirklich böse Menschen in der Welt, und gegen die müssen wir uns auch schützen. Aber die meisten Menschen wollen in Ruhe und Frieden leben, egal welcher Weltanschauung sie anhängen. In den aktuellen Konflikten wird Religion oft nur als Deckmantel für ganz anderes benutzt. Denn, ob jemand an Gott, Allah oder Buddha glaubt, hängt doch sehr stark von seiner Geburt ab. Jeder Mensch aber liebt andere Menschen und liebt sein Leben, und jeder Mensch hat Sorgen und Nöte. Meist bekommen wir nur Probleme miteinander, weil wir nicht miteinander reden. Das wichtigste ist, auf andere Menschen zuzugehen und mit ihnen zu reden. Und das klappt in der Regel ohne Waffen besser als mit. Weihnachten nennen wir das Fest der Liebe. Und daran sollten wir uns erinnern, Kinder. Ich rede nicht so, weil ich euch verschrecken will, sondern weil ich Kinder wie euch liebe und sie vor solchen Torheiten bewahren will, wie wir sie in unserer Jugend begangen haben. Ein anderer Vers von meinem Ludwig hilft hier in gewisser Weise auch weiter. Zwar hat er ihn eigentlich deutlich persönlicher gemeint, aber er kann auch in Bezug auf die Völkerfreundschaft verstanden werden: >Liebe ist Freundschaft, Liebe uns Freunde schafft.<“

Sophia hat gerade diese schönen Worte gesprochen, da ertönt die alte Türklingel. Die Kinder schrecken auf und merken, plötzlich, wie weit sie in eine andere, etwas magisch wirkende Welt abgetaucht waren. Vielleicht kommt diese Frau doch aus einem Märchen, denkt Lisa, nur dass sie keine Hexe ist, sondern vielleicht eine gut Fee. Außerdem, wer hat denn gesagt, dass Hexen wirklich böse sein müssen …?

Sophia begrüßt die Mutter von Tom und Lisa an der Haustür. Die bedankt sich bei ihr. Mit glänzenden Augen verabschiedet sich dann Lisa von Sophia. Und auch Tom haben die letzten Worte nachdenklich und milde gestimmt. Mit einem Lächeln drückt er Sophia die Hand zum Abschied und sagt:

„Danke Sophia, diesen Abend werde ich wohl nicht so bald vergessen. Entschuldige bitte, dass ich so wütend geworden bin.“

Sophia schaut ihn an und streicht ihm über den Kopf. „Das habe ich durchaus verstanden“ sagt sie mit Freudentränen in den Augen. Lisa, die die alte Frau schnell sehr ins Herz geschlossen hat, umarmt diese spontan und küsst sie zum Abschied auf die Wange.

„Und noch was Kinder!“ sagt Sophia, als alle schon über die Türschwelle gehen, „im Zweifel folgt immer eurem Herzen und bleibt wahrhaftig, bleibt euch selbst treu!“

A

Vor dem Haus begrüßt die kalte Winterluft die Kinder. Es hat aufgehört zu schneien. Stattdessen leuchten viele helle Sterne am Himmel und verleihen so der hereingebrochenen Nacht noch mehr Glanz, als sie schon durch Schnee und Weihnachtsschmuck bekommen hat. Alle schauen zum Himmel und Lisa meint, eine Sternschnuppe gesehen zu haben. Vielleicht war das ein Zeichen von Ludwig, denkt sie und lächelt. Schließlich ist Weihnachten ja das Fest der Liebe!

III. Die Demokratie lebt vom Diskurs

Die Demokratie lebt vom Diskurs

oder

Die Anwendung von Gewalt stellt immer ein Versagen dar!

Gedanken zum Zeitgeist III – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

„Stuttgart 21“, Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, Gorleben, Hartz IV, Auslandeinsätze der Bundeswehr – die Liste ist lang, die Liste von in der Gesellschaft kontrovers diskutierten Themen. Zugleich ist dies eine Liste mit Entscheidungen von Politikern, für die sie häufig keine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich haben. Dann spitzen sich solche gesellschaftlichen Diskussionen so weit zu wie gerade in Stuttgart oder seit Jahren in Gorleben, dass die getroffenen Entscheidungen nur noch mit Polizeigewalt durchgesetzt werden können. – Ist das mit einer freien und demokratischen Gesellschaft noch vereinbar? Oder ist es nicht höchste Zeit, über das demokratische Selbstverständnis in Politik und Gesellschaft nachzudenken? Auf welcher Basis steht unsere demokratische Gesellschaft, was zeichnet sie aus? Die folgenden Gedanken wollen dies näher erörtern und Denkanstöße geben für eine dringend notwendige gesellschaftliche Diskussion.

„Die Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.“ Willy Brandt [1]

Die Demokratie lebt vom Diskurs und von der Achtung der Rechte aller Menschen, auch der anders denkenden (denn wer weiß schon sicher, was ist?). – Demokratische Entscheidungen sind nur dann demokratische Entscheidungen, wenn sie in einer offenen und freien Diskussion aller Beteiligten mit gleichen Bedingungen für alle gefunden werden – und wenn in dieser Diskussion von allen Beteiligten die Rechte und die Würde jedes einzelnen Beteiligten geachtet werden. Ziel muss dabei immer das Gemeinwohl sein, nicht die egoistischen Einzelinteressen.

Konkreter bedeutet das für einen demokratischen Entscheidungsprozess, es gibt eine entsprechende Diskussionskultur, allen Beteiligten stehen die gleichen (alle) Informationen und Hilfsmittel wie auch der Rat von Experten zur Verfügung und es gibt genügend Zeit, um sich auch ohne großes Vorwissen in das Thema einzuarbeiten und eine verantwortbare Entscheidung zu finden. Aus diesem Grund ist eine demokratische Gesellschaft auch an einer möglichst umfassenden und fundierten Bildung ihrer Glieder (der in ihr lebenden Menschen) interessiert – einer Bildung mit fächerübergreifendem Grundwissen und einer Charakterbildung mit zugehöriger Selbstachtung und Achtung allen anderen gegenüber. Denn, je fundierter diese Bildung der Menschen ist und je weniger sie unter Zeitdruck stehen, desto sicherer können sie die für eine vernünftige Entscheidung notwendige kritische Distanz zum Thema aufbauen und umso schneller und sicherer werden sie zu verantwortbaren Entscheidungen finden können. Das ist das Ideal.

Zur Verdeutlichung soll ein Blick in den philosophischen Unterbau dieses Gedankenganges dienen. Basis einer freien und demokratischen Gesellschaft ist der in der unbedingten Würde jedes einzelnen Menschen gründende Kategorische Imperativ: „handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.[2] Immanuel Kant sagt weiter: „Nun folgt hieraus unstreitig: daß jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst, sich in Ansehung aller Gesetze, denen es nur immer unterworfen sein mag, zugleich als allgemein gesetzgebend müsse ansehen können, weil eben diese Schicklichkeit seiner Maximen zur allgemeinen Gesetzgebung es als Zweck an sich selbst auszeichnet […]. Nun ist auf solche Weise eine Welt vernünftiger Wesen […] als Reich der Zwecke möglich und zwar durch die eigene Gesetzgebung aller Personen als Glieder.“[3]

Die repräsentative (parlamentarische) Demokratie ist eine pragmatische Abweichung vom zuvor beschriebenen Ideal. In der parlamentarischen Demokratie werden die politischen Entscheidungen in den Parlamenten getroffen. Die Parlamentarier entscheiden stellvertretend für alle Menschen (ihre Wählerinnen und Wähler und deren Kinder). Mittlerweile geht diese Abweichung vom Ideal aber noch weiter. In unserer parlamentarischen Demokratie werden viele politische Entscheidungen faktisch nicht in den gesetzgebenden (legislativen) Parlamenten, sondern auf der eigentlich ausführenden (exekutiven) Ebene in den Regierungen und deren Ämtern gefällt (aktuelles Beispiel sind die Geheimverhandlungen zur Inbetriebnahme von Gorleben). Entsprechend findet ein gesellschaftlicher Diskurs allenfalls begleitend statt und beeinflusst die politischen Entscheidungen nicht zwingend! Diese starke Abweichung vom Ideal öffnet die Tür für eine vielfältige Einflussnahme von einzelnen Interessengruppen. Tatsächlich werden viele Gesetze in Ministerien geschrieben und nicht in parlamentarischen Arbeitsgruppen. Und in diesen Ministerien sitzen häufig von betroffenen Industriekonzernen bezahlte „Leiharbeiter“ mit an den Schreibtischen.

Dem Volk bleibt nur der Weg auf die Straße

Für den eigentlichen Souverän in einem demokratischen Staatswesen, dem Volk, bleibt kaum noch Raum für eine Einflussnahme. Neben dem Engagement in Parteien (die zu Machtverteilungs- und Machterhaltungsvereinen zu verkommen scheinen) und Bürgerinitiativen (mit entsprechend eingeschränkter Einflussmöglichkeit) bleibt nur der Weg auf die Straße. Gerade in unserer heutigen Mediengesellschaft, kann eine öffentliche Aufmerksamkeit nur mit auffälligen Aktionen erreicht werden. Wenn immer mehr Menschen möglichst oft und lange auf die Straße gehen, wird auch die Aufmerksamkeit der Medien größer. Nur so werden weitere Menschen (Wählerinnen und Wähler) aufmerksam und letztlich auch Politiker und Politikerinnen. Bleiben diese dann unnachgiebig, helfen mitunter nur noch über das einfache Demonstrieren hinausgehende phantasievolle, gewaltfreie (!) Aktionen. Das zeigen die von den politisch Verantwortlichen gegen ein offensichtliches Interesse vieler Bürgerinnen und Bürger zugespitzten Auseinandersetzungen um Themen, wie vor Jahrzehnten beim nuklearen Wettrüsten, wie seit Jahrzehnten in Gorleben (stellvertretend für eine verantwortungslose Atompolitik) oder aktuelle in Stuttgart (für ein Prestigeobjekt einiger Politiker und Konzerne). Hier werden Sitzblockaden oder Besetzungen von Bäumen, Gebäuden oder Maschinen durchaus zu einem angemessen und legitim erscheinenden Mittel, sich Gehör zu verschaffen. Wie für die staatlichen Gewaltorgane ist hier sicher eine Verhältnismäßigkeit zu beachten. Jedoch sind die Bürger zunächst immer in einer schwächeren Position!

Wegen der eingeschränkten Möglichkeit zur Einflussnahme für die Bürgerinnen und Bürger ist in einer parlamentarischen Demokratie das Demonstrationsrecht der Bürgerinnen und Bürger das neben dem Wahlrecht höchste Gut. Denn es ist neben dem Gang zur Wahlurne (alle paar Jahre) die einzige Möglichkeit, auf aktuelle politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Dies gehört im Übrigen zum verfassungsrechtlichen Grundwissen jedes Polizeibeamten und es irritiert umso mehr, wenn der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Voßkuhle dies in Frage stellt![4]

Bei der Betrachtung der aktuellen verschärften Auseinandersetzung in Stuttgart um das Projekt „Stuttgart 21“ stellen sich nun zwei grundsätzliche Fragen: Wie demokratisch und grundgesetzkonform denken Politikerinnen und Politiker (und auch Konzernchefs – Betriebe stellen keinen grundrechtsfreien Raum dar!), die ein so umstrittenes Projekt gegen einen deutlichen Widerstand in der Bevölkerung mit Polizeigewalt durchzusetzen versuchen? Und wie stark fühlen sich die dafür eingesetzten Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten noch dem demokratischen Rechtsstaat und seiner Verfassung verpflichtet, die „blind“ mit Gewalt gegen friedlich demonstrierende Menschen vorgehen?

Die Antworten darauf müssen vor allem die so Befragten selbst für sich finden. Was ist aber neben dem bereits gesagten zu beachten?

Unverletzliche und unveräußerliche Menschrechte

Am 10. Dezember 1948 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“[5] verabschiedet. Deutschland hat sich wenig später nach grausam schmerzhaften Erfahrungen eindeutig dazu bekannt („Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 Abs. 2 GG)). Seit 1949 gilt in der Bundesrepublik Deutschland das Grundgesetz als alles gründende und alle in diesem Staat lebenden Menschen verpflichtende Basis! In Artikel 1 wird die Würde des Menschen für unantastbar erklärt! Und „sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 Abs. 1 GG). Das gilt gleichermaßen für die verantwortlichen Politiker wie Ministerpräsident Mappus oder Innenminister Rech wie auch für die eingesetzten Polizeikräfte.

Umso mehr befremdet es, wenn die verantwortlichen Politiker nach dem brutalen Einsatz am 30. September 2010 keine Einsicht zeigen, sondern wider besseres Wissen friedliche Demonstranten zu Gewalttätern erklären. Anstatt das totale Versagen einzugestehen angesichts der Polizeigewalt sogar gegen Kinder, sprechen sie diesen zehn oder zwölf Jahre alten Menschen jede Fähigkeit ab, sich bereits ein politisches Urteil bilden zu können (was bei Betrachtung der betriebenen Bildungspolitik möglicherweise ja zumindest gewünscht ist).

Polizisten sind Verteidiger des demokratischen Rechtsstaats, nicht der Mächtigen

Wenn dabei auch noch alle Polizisten in Deutschland tatsächlich so denken würden, wie der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) Rainer Wendt, der den Einsatz der Beamten in Stuttgart mit folgenden Worten rechtfertigte: „Polizeiliche Einsatzmittel müssen Waffen sein, die weh tun, nur dann wirken sie“[6], dann befände sich unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft möglicherweise bereits wieder auf dem Weg in die Unfreiheit. Denn dann könnten wir Bürgerinnen und Bürger uns nicht mehr auf die Menschen verlassen, die sich – achtenswerterweise! – bereiterklärt haben, diese Freiheit und Demokratie zu schützen. Polizistinnen und Polizisten sind Verteidiger des demokratischen Rechtsstaats, nicht der Mächtigen! Das Image der Polizei hatte sich seit den 1960er Jahren zunächst nach und nach stark verbessert. Seit einiger Zeit bekommt der wache Bürger vor allem bei Demonstrationen aber immer häufiger den Eindruck, wieder auf dem Weg in einen Polizeistaat zu sein. Die Verantwortung dafür tragen in erster Linie die politischen Entscheidungsträger! Aber jeder einzelne Polizist, jede einzelne Polizistin muss sich fragen, ob er beziehungsweise sie solche Einsätze mit seinem beziehungsweise ihrem Gewissen (und seinem/ihrem Eid auf die Verfassung) noch vereinbaren können? Wenn wir Deutschen in diesem Zusammenhang auf eine Lehre aus dem Dritten Reich zurückgreifen können, dann auf folgende: Befehle müssen nicht um jeden Preis ausgeführt werden, es kann sogar menschlich notwendig sein, sie zu verweigern!

Nicht im Stich lassen

Die deutlich besonnenere Stellungnahme der Gewerkschaft der Polizei (GdP, größte deutsche Interessenvertretung der Polizei) stimmt zum Glück wieder hoffnungsvoller, indem sie feststellt: „Fehlende politische Überzeugungskraft kann nicht durch polizeiliches Handeln ersetzt werden“[7]. Wenn der GdP-Vorsitzende Konrad Freiberg dann weiter sagt: „Ich appelliere aber auch an alle Bürgerinnen und Bürger, die Polizei nicht im Stich zu lassen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, dass Gewalt und Rechtlosigkeit auch sie treffen könnten“[7], dann stößt dies durchaus auf Verständnis und Zustimmung. Nur darf die Polizei dann eben auch uns Bürgerinnen und Bürger nicht im Stich lassen. Uns alle, aber vor allem die verantwortlichen (hoffentlich demokratisch gesinnten) Politikerinnen und Politiker sollte dieser eindeutige Hilferuf nachdenklich stimmen.

Wer den Polizeieinsatz vom 30. September in Stuttgart sieht, bekommt auch eine Ahnung davon, was Politiker wie Wolfgang Schäuble im Schilde führen mögen, wenn sie seit Jahren vehement den Einsatz der Bundeswehr im Innern fordern. Auch hier sollten wir uns an die Lehren aus unserer Geschichte erinnern, wo in den Anfängen der Weimarer Republik die Reichsregierung (demokratiefeindliche) Freikorps-Soldaten einsetzte, um die Republik zu retten und wo am Ende dieser unsäglich begonnenen Entwicklung diese in einem Polizeistaat unerreichter „Güte“ mündete. Soldaten – welcher Gesinnung auch immer – sind eben keine Polizisten.

Nur mit dem Wagen von mehr Demokratie können wir diese retten

Normale Bürger und vor allem Schülerinnen und Schüler verlieren bei einer Erfahrung wie der in Stuttgart den Glauben an unseren Rechtsstaat. Ist das vielleicht das Ziel der verantwortlichen Politiker?

Wenn das nicht das Ziel ist, mögen diese Politiker und Politikerinnen sich bitte an die Worte Willy Brandts erinnern: „Wer morgen sicher leben will, muß heute für Reformen kämpfen“[8], und zum Beispiel für mehr faire Bürgerbeteiligung bei solch gewichtigen Projekten sorgen. Nur mit dem Wagen von mehr Demokratie können wir diese retten und nicht mit der zunehmenden Einschränkung und Abschaffung demokratischer Rechte! Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Art. 20 Abs. 2 GG), nicht von der Regierung, nicht von der Polizei und schon gar nicht von einem Wirtschaftsunternehmen!

Gegen die hier dann gerne angeführte Kritik, die Menschen wären für mehr Bürgerbeteiligung noch nicht reif, ist noch einmal Immanuel Kant heranzuziehen. Begründet in seinem Verständnis von Freiheit war Kant eindeutig ein Verfechter möglichst umfassender Freiheiten für jeden Menschen. Dabei sah er deutlich den langwierigen und schwierigen Weg, der zu deren Verwirklichung führt. Ihm war klar, dass die Verwirklichung von Freiheiten auch mit Risiken und Rückschlägen verbunden sein würde, aber die Freiheit ‘richtig’ zu Nutzen lernt der Mensch nur in Freiheit:

„Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif … Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist … Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen man frei sein muß).“[9]

Die großartige Leistung der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR

Das Wagnis der Freiheit gelingt nicht ohne stetes Bemühen, aber es gibt keine vernünftige Alternative. Gerade in diesen Tagen können wir freilich Mut schöpfen. Erinnern wir Bürgerinnen und Bürger uns vielleicht gerade jetzt – im Umfeld des zwanzigsten Jahrestages der deutschen Einheit und dem nahen 21sten Jahrestages des Mauerfalls – an die großartige Leistung der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR (und im Hintergrund auch an die Zurückhaltung der dortigen Polizei- und Armeekräfte). Das Volk der DDR schaffte es, sich ohne Gewalt durch stetiges und unnachgiebiges Bemühen gegen die Herrschenden durchzusetzen. Was damals galt, gilt auch heute:

Wir sind das Volk!

Und was damals wohl alle Beteiligten im Bewusstsein hatten gilt grundsätzlich: Die Anwendung von Gewalt stellt immer ein Versagen dar!

Das heute zunehmend mehr Menschen für ihre Rechte und ihre Meinung auf die Straße gehen, gibt Hoffnung! Denn wenn alle Menschen (Politiker wie normale Bürgerin) diese Chance erkennen, kann diese Entwicklung auch in eine politische Ordnung münden, die dem anfangs beschriebenen Ideal näher kommt.

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Nachsatz zu Äußerungen aus der Wirtschaft

Aus Wirtschaftskreisen wird politischer Protest gern als schädlich für die Wirtschaft und somit verantwortungslos bezeichnet. Nun mag politischer Protest mitunter tatsächlich Wirtschaftsprozesse behindert. Aber jeder Mensch muss sich fragen, was ihm das Leben und die Freiheiten anderer Menschen jetzt und in der Zukunft wert sind. Und das hier beschriebene anzustrebende demokratische Ideal gilt als Grundlage für alle gesellschaftlichen Prozesse, also auch für die wirtschaftlichen.

Nun kann möglicherweise niemand erwarten, dass Wirtschaftsunternehmen beziehungsweise die in ihnen Verantwortung tragenden Menschen einfach das bestehende Wirtschaftssystem von heute auf morgen umwerfen. Das wäre dann wahrscheinlich auch volkswirtschaftlich schädlich. Aber verantwortungsbewusst entscheidende und handelnde Menschen unterstützen nach ihren Möglichkeiten demokratische Prozesse und behindern sie nicht. Wer nur dem Primaten der Ökonomie folgt, handelt egoistisch und damit meist auch gegen das Gemeinwohl.

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Weitere Informationen:

Ein interessanter Kommentar mit zwei eingebundenden aufschlussreichen Video- bzw. Fernsehaufnahmen findet sich unter:

http://www.spiegelfechter.com/wordpress/4202/der-bahnhof-des-himmlischen-friedens#more-4202

Und angesichts der unverhältnismäßigen Polizeigewalt sei hier auch an eine laufende Aktion von Amnesty International Deutschland erinnert:

http://www.amnestypolizei.de/mitmachen/fordern.html

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Quellen

[1] Willy Brandt, Erinnerungen, 1989, zitiert nach Wikiquote (http://de.wikiquote.org/wiki/Willy_Brandt).

[2] Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. Von Theodor Valentiner. Stuttgart: Reclam, 1991 [(1) 1785], S. 68 (Hervorhebung im Original).

[3] Kant, Grundlegung, S.92.

[4] Radiomeldung im Deutschland Funk vom 9. Oktober 2010 (http://www.dradio.de/nachrichten/201010090400/6).

[5] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung 1948 (http://www.amnesty.de/umleitung/1899/deu07/001?lang=de%26mimetype%3dtext%2fhtml).

[6] „Polizeichef traute eigenen Beamten nicht“, Spiegel-Online vom 2. Oktober 2010 (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,720844,00.html).

[7] Pressemitteilung der Gewerkschaft der Polizei vom 11.10.2010 (http://www.gdp.de/gdp/gdp.nsf/ID/56BD03CDD23D9E43C12577B9001F4070?Open).

[8] Wahlkampfplakat aus 1972.

[9] Immanuel Kant: zitiert nach Ingeborg Maus: Zur Aufklärung der Demokratietheorie: Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant. Suhrkamp-Taschenbuch. Frankfurt /Main: Suhrkamp, 1994, S. 128 (Hervorhebungen im Original).

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Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

I. Tapfer sterben für …

II. Der Finger in der Wunde

III. Die Demokratie lebt vom Diskurs

IV. Mehr Schein als Sein

V. Begründung einer Hoffnung

VI. Wer das Geld hat –

VII:.…