Juli 11

IX. Was ist jetzt (!) wesentlich?

Was ist jetzt (!) wesentlich?

Verantwortungsbewusstsein, Solidarität und Menschenliebe

Gedanken zum Zeitgeist IX – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

„Hoffnung ist etwas anderes als Optimismus. Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, ganz egal, wie es endet.“

Václav Havel[1]

Damals

Wir schreiben heute das Jahr 2016[2]. Für mich als Kind der 1960er Jahre trägt dieses Datum etwas Futuristisches in sich. Ein Sciencefiction-Film aus der Zeit meiner Kindheit trägt den Titel „2001 – Odyssee im Weltall“. Die Jahreszahlen jenseits der nächsten Jahrhundertwende, die zugleich ja sogar eine Jahrtausendwende sein würde, trugen alle etwas weit entferntes in sich – auch später noch, als wir herangewachsen waren und die Jahrtausendwende näher rückte. Noch Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, als ich studierte, hatten Jahreszahlen mit der 2000 etwas fernes, fast unerreichbares.

Zur selben Zeit, den Jahrzehnten nach den grauenvollsten Ereignissen, die die Menschheit bis dahin erleben – und verantworten – musste (dem Zweiten Weltkrieg mit dem Holocaust und weiterer organisierter Menschenvernichtung[3]), standen sich zwei waffenstarrende Systeme gegenüber, die mit ihren Atomwaffen beide in der Lage waren, den Planeten innerhalb kürzester Zeit für Menschen unbewohnbar zu machen. Die Zeit wurde der „Kalte Krieg“ genannt. „Kalt“, weil es – angeblich – keine „heißen“, also bewaffneten, Konflikte zwischen den Systemen gab. Dies war allerdings eine Lüge – wie so vieles. Denn die Systeme bekriegten sich durchaus auch „heiß“. Nur dieses Töten und Morden fand (vorrangig) nicht auf den Territorien der Kernstaaten dieser Systeme statt – Westeuropa und Nordamerika auf der einen Seite und Osteuropa und die Sowjetunion auf der anderen Seite (die Grenze der Systeme lief mitten durch Deutschland!). Sondern es ereignete sich in vielen Ländern der sogenannten „Dritten Welt“. Das Foltern und Morden fand in Staaten Mittel- und Südamerikas, in Afrika und in Südostasien statt – von Chile über Angola bis hin nach Vietnam (um eine bekannte, aber an dieser Stelle willkürliche Auswahl zu nennen) – zu verantworten von beiden Systemen! Trotz des relativen Friedens (der ja trügerisch war), sehnten viele Menschen ein Ende diese Kalten Krieges (und der Teilung Deutschlands) herbei. Doch auch dies lag als Möglichkeit scheinbar unvorstellbar weit in der Zukunft.

1972, wenige Jahre nach dem einleitend genannten Film wurde ein wissenschaftlicher Report veröffentlicht: „Die Grenzen des Wachstums“, der erste Bericht an den Club of Rome. In diesem Bericht, der auf damals noch in den „Kinderschuhen“ befindlichen Computerberechnungen basierte, prognostizierten diese Wissenschaftler erstmals fundiert – damals noch relativ vorsichtig – den Kollaps unserer Lebenswelt. Der exponentiell steigende Ressourcenverbrauch in einer endlichen Welt gepaart mit anderen Faktoren wird das Leben der Menschheit, zumindest so, wie es seinerzeit gelebt wurde, schon im kommenden Jahrhundert ernsthaft bedrohen. Danach häuften sich solche Berichte, die es schon bald zuließen, von einer „ökologischen Krise“ zu sprechen – eigentlich sogar von einer „sozial-ökologischen Krise“[4], denn das eine lässt sich nicht vom anderen getrennt betrachten! Doch alle sprachen von einer Zukunft, die – vielleicht wegen der noch nicht überschrittenen, aber bevorstehenden Jahrtausendwende – noch fern zu sein schien. Für die einen bedeutete dies, dass ja noch kein Handlungsbedarf besteht. Für andere barg dies noch die Zuversicht in sich, dass ja noch genügend Zeit bleibt, um zu handeln.

Heute

Heute nun, inzwischen mitten im Jahr 2016, ist vieles Geschichte.

Der „Kalte Krieg“ ist beendet – wie es scheint, allerdings nur, um zahlreichen „heißen“ Kriegen und Bürgerkriegen Platz zu machen. Diese gab und gibt es dann auch schon wieder zeitweise in Europa (ehemaliges Jugoslawien und in jüngster Vergangenheit in der Ukraine). Neu ist, dass der Respekt vor einer Ausweitung von kriegerischen Auseinandersetzungen auf ganz Europa nun auf breiter Front zu schwinden scheint. Und als Folge all dieser global stattfindenden Kriege sind weltweit viele Millionen Menschen auf der Flucht vor Terror und Gewalt.

Auch die deutsche Teilung ist Geschichte. Deutschland ist nun glücklicherweise seit mehr als 25 Jahren wiedervereinigt. Doch beschämenderweise betreibt das wieder „große“ Deutschland nun auch wieder Außenpolitik gestützt auch auf militärische Mittel und Optionen – eine Außenpolitik, die häufig vorrangige Wirtschaftspolitik ist.[5]

Insofern bleibt es fraglich, wie weiter der Fortschritt reicht, den das (in jedem Fall aber zu begrüßende!) Ende des Kalten Krieges gebracht hat.

Die Prognosen des Wissenschaftsberichtes aus 1972 haben sich hingegen in vielen Bereichen bestätigt. Am gravierendsten ist dies inzwischen bei einem Phänomen der Fall, was seinerzeit noch keine ausführliche Erwähnung fand: die die bekannte Biosphäre bedrohende, menschenverursachte Erderwärmung (auch als Klimawandel bezeichnet).

In seinem mittlerweile fünften Sachstandsbericht beschreibt 2014 der 1988 von der UN gegründete Weltklimarat (IPCC) inzwischen eine dramatische Situation, die vernünftigerweise keinen Raum mehr für taktische Gedanken lässt – vernünftigerweise! Und auch die realen klimatischen Ereignisse lassen dafür keinen Raum mehr – vernünftigerweise: Einige Inselstaaten bereiten sich schon auf das Verlassen ihrer im wahrsten Sinne des Wortes untergehenden Heimat vor. Hunger und Dürre – durch diese ökologische Krise verursacht – treiben weltweit weitere Millionen Menschen in die Flucht aus ihrer Heimat. An Zahl und Ausmaß zunehmende Extremwetterereignisse bedrohen verstärkt auch die Gebiete der westlichen Industrienationen. Und vieles mehr … [6]

Und doch handelt die Mehrheit von Verantwortungsträgern (im weitesten Sinne!) weltweit so, als hätten wir noch „alle Zeit der Welt“. Wachstum und Gewinne, Reichtum und Macht, dass ist unverändert das „goldene Kalb“, um das – häufig rabiat und rücksichtslos – getanzt wird.

„Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.“ [7]

Robert Jungk

Was sind nun aber unsere dringlichsten Aufgaben? Was ist jetzt wesentlich?

Zum einen der Schutz der Menschen in der Gegenwart! Wir müssen allen Menschen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen.

Zum anderen der Schutz der Menschen in der Zukunft! Wir müssen unseren Nachfahren die Möglichkeit erhalten, menschenwürdig zu leben und selbst zu bestimmen, wie sie wo leben wollen.

Der Schutz der Menschen in der Gegenwart bedeutet, dass jeder Art von Gewalt und bewaffnetem Konflikt entgegengewirkt werden muss, dass Hunger beseitigt wird und dass Menschen in Not geholfen wird. Ob sie nun vor der Gewalt fliehen oder vor dem Hunger. Die Keimzellen für diese Arbeit müssen wir als liebende[8] Menschen sein. Alle Gewalt hat ihren Ursprung im unreflektierten, lieblosen Umgang mit uns selbst und unseren unmittelbaren Mitmenschen – die Eltern mit ihren Kindern, der Freund mit dem Freunde, der Chef mit seinen Mitarbeitern, die Gesellschaft mit ihren schwächsten Gliedern, … Hier also muss ein jeder von uns beginnen.

Für den Schutz der Menschen in der Zukunft ist Klima- und Umweltschutz oberstes und drängendstes Gebot! Auch hier ist letztlich ein liebevolleres Handeln gefordert – nur etwas abstrakter erkennbar. Denn jede meiner Handlungen in der Welt von heute bewirkt etwas in der Welt von morgen. Diese Wirkung wird dann unmittelbar auf die dann lebenden Menschen treffen und ihnen Freiheiten nehmen oder lassen – sie also lieblos oder liebevoll behandeln. Hoffentlich am schnellsten einleuchten wird diese Gegebenheit, wenn wir an unsere direkten Kinder denken – die eigenen oder die als Mitmensch auch in meine Verantwortung mit überlassenen. Wer wünscht seinen Kindern schon eine Zukunft mit zunehmender Wasserknappheit, Rohstoffarmut, von sengender Hitze verdorrten Böden und ständiger Bedrohung durch Gewalt und Krieg? Genau das aber zeichnet sich als deren Zukunft ab – ja, schon der heute lebenden Kinder!

Beides sollten wir uns alle vor Augen halten, wenn wir über unser Dasein und unsere Aufgaben in der Welt nachdenken. So interessant und wichtig eine noch freiere Gesellschaft in der Zukunft auch sein kann. Für den Augenblick genügt es, den Status Quo zu erhalten (was schwierig genug ist).[9] Ich muss an dieser Stelle einem sehr guten Freund zustimmen, der mich jüngst in einem unserer zahlreichen Gespräche über die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage darauf aufmerksam machte, dass es unsere aktuelle Aufgabe nur noch sein kann, den Menschen in der Zukunft überhaupt ein Leben zu ermöglichen – und damit dann auch die Möglichkeit, die Geschichte des Fortschritts einer freien und menschenwürdigen Gesellschaft fortzuschreiben. Die Menschen der Zukunft müssen (und wollen sicher auch) dann selbst entscheiden, wie sie zusammenleben werden. Was wir aber in der Hand haben, ist, ihnen überhaupt die Freiheit einer Entscheidung zu vererben.

Und hierfür müssen wir alle zusammenbringen, die sich dieser Verantwortung bewusst sind. Egal ob sie dem – demokratisch gebändigten – Kapitalismus eher zugeneigt sind oder ihn eher als eine der Ursachen unserer gegenwärtigen großen Probleme sehen. Vereinfacht gesagt: Jeder und jede, der und die sich seiner und ihrer großen Verantwortung für seine und ihre Mit- und Nachwelt bewusst geworden ist, ist willkommen und sollte mit uns an den genannten Aufgaben arbeiten. Nur so wird es noch ein „nach uns“ geben können!

… Der Anspruch der Situation an den Menschen scheint in der Tat von der Art, daß nur ein Wesen, das mehr als Mensch ist, ihm Genüge tun kann. Die Unerfüllbarkeit des Anspruchs kann verführen, ihn zu umgehen, sich einzurichten auf das nur Gegenwärtige und seinen Gedanken eine Grenze zu setzen. Wer alles in Ordnung glaubt und dem Weltlauf als solchem traut, braucht nicht erst Mut zu haben … Auf echte Weise hat Mut, wer aus Angst im Erfühlen des Möglichen zugreift in dem Wissen: nur wer Unmögliches will, kann das Mögliche erreichen. Die Erfahrung der Unerfüllbarkeit in dem Versuchen der Erfüllung kann allein verwirklichen, was dem Menschen aufgegeben ist zu tun.“ [10]

Karl Jaspers (1932)

Wolfenbüttel, im Juli 2016 (mit Unterbrechung ausgearbeitet seit Januar 2016)

Verweise

[1] Václav Havel, zitiert nach: Andreas Weber u. Daniel Rosenthal (Fotos), „Nur draußen ist er mittendrin“, greenpeace magazin 06/2015, S. 42.

[2] Oder 12016 HE (Holozen-Ära) in einer religionsfreien, die Menschheit als Ganzes berücksichtigenden Zeitrechnung zu sprechen. So sinnvoll mir das prinzipiell erscheint, so wenig praktisch (also verständlich) wäre es allerdings im Moment (und bis auf weiteres). Weitere Informationen hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Holoz%C3%A4n-Kalender

[3] Neben der für sich schon grauenvollen Vernichtung von Millionen Menschen jüdischer Abstammung wurden von der deutschen Vernichtungsindustrie auch unzählige Menschen anderer Abstammung wie Sinti und Roma oder politisch anders Denkende gefoltert und ermordet. Zudem gab es ähnlich menschenverachtende Vorgänge unvorstellbaren Ausmaßes auch auf dem anderen Schauplatz des Zweiten Weltkrieges, dem von Japan eroberten und unterdrückten Teilen Asiens wie z. B. in China.

[4] Mit dem Begriff „ökologische Krise“ ist eine Zusammenfassung aller Umwelt- und der damit in Wechselwirkung stehenden Gesellschaftskrisen gemeint; vgl. Rainer Elsner: Ökologie in Lehre und Forschung. Hochschulreihe Band X. Wolfenbüttel: Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, 1994, S. X u. 17 ff.

[5] Zur militärisch gestützten deutschen Außenpolitik hatte ich anlässlich des Rücktritts von Bundespräsident Köhler seinerzeit bereits ein paar „Gedanken zum Zeitgeist“ veröffentlicht, vgl. Rainer Elsner: „Tapfer sterben für …“, Ostfalen-Spiegel, 10.06.2010 (https://www.ostfalen-spiegel.de/tapfer-sterben-fur/).

[6] Einen sehr umfassenden und fundierten Sachstandsbericht, der auf seinen 778 Seiten auch historische Zusammenhänge und Entwicklungen aufzeigt und dennoch kurzweilig zu lesen ist, liefert das 2015 veröffentlichte Buch des Direktors des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK): Hans Joachim Schellnhuber: Selbstverbrennung: Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff. München: C. Bertelsmann, 2015

[7] Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Stuttgart: Scherz & Goverts, 1952, S. 17; zitiert nach „Vernetzung von Zukunftswerkstätten“ https://www.zwnetz.de/Jungk/50.html?#Anchor-Bottom

[8] An solcher Stelle von der Liebe zu reden mag ungewöhnlich erscheinen. Doch Mangel an Liebe ist möglicherweise der Kern des Problems. An dieser Stelle reicht der Platz nicht aus, dies tiefergehend zu erörtern, aber dieser kleine Hinweis ist notwendig. Wir geben uns lieber irgendwelchen gekränkten Eitelkeiten, Machtspielen und Egoismen hin – mitunter im Zweifel bis aufs Blut, als uns auf das Wesentliche zu besinnen. Uns darauf zu besinnen, was uns in diese Welt gebracht hat und unserem Leben überhaupt Sinn verleiht: die uns letztlich positiv mit allem Lebenden verbindende Liebe.

[9] Dass der Status Quo zumindest in Deutschland wenigstens in der Theorie unserer Verfassung eine unverändert bedeutende und schützenswerte Errungenschaft darstellt, habe ich in meinen „Gedanken zum Zeitgeist“ vom 23. Mai 2011 dargelegt, vgl. Rainer Elsner: „Begründung einer Hoffnung …“, Ostfalen-Spiegel, 23.05.2011 (https://www.ostfalen-spiegel.de/v-begrundung-einer-hoffnung/).

[10] Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit: von Prof. Dr. Karl Jaspers. 9. Abdr. der im Sommer 1932 bearb. 5. Aufl. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1999 [(1) 1932], S. 134 f.

Bildnachweis

Bild und Text zum Bild: Ghostwriter123, via de.wikipedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

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März 20

Vernunft, die sich im Entschluss entfaltet

Buchvorstellung

Karl Jaspers

Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit.

Drei Vorlesungen.

Neuausg.

München: Piper, 1990 [(1) 1950].

Taschenbuch, 71.

ISBN 3-492-11199-8

[Die Quellenangabe bezieht sich auf die der Rezension zugrunde liegende Ausgabe]

Rezension und Hintergrund

„Vernunft will nicht durch Vergessen schuldig werden, nicht in einer Scheinharmonie das Eine verlieren, nicht durch Verschleierung sich betrügen.“[1]

Dem Hang des Menschen, sich dogmatisch an eine Ideologie zu klammern setzt Jaspers die Vernunft, die sich in der Freiheit des Menschen im selbständigen bewusstem Entschluss entfaltet, entgegen. Gegen den Machbarkeitswahn und den „Wissenschaftsaberglauben“ setzt er das von der Vernunft geforderte kritische Hinterfragen. Nur in der Kommunikation mit anderen Menschen können wir zur Wahrheit finden.

„Wir wissen voneinander nichts Wesentliches, außer wenn wir miteinander in Kommunikation treten.“ [2]

Karl Jaspers war Wissenschaftler, Arzt und Psychiater, er war vielleicht der bedeutendste Philosoph des zwanzigsten Jahrhunderts, und er war ein kritischer politischer Schriftsteller. Hannah Arendt sagte von ihm, er sei “in … eigentlich jeder Hinsicht der einzige Nachfolger …, den Kant je gehabt hat”[3]. Für Jaspers war Philosophie nie eine Sache für den akademischen Elfenbeinturm, sondern immer für den einzelnen denkenden und fühlenden Menschen. Entsprechend hat er auch immer wieder die akademischen Mauern verlassen und die Öffentlichkeit gesucht. Von manchem Zeitgenossen als unbequem empfunden hat er nicht nur zu philosophischen Fragen Stellung bezogen, sondern auch zu politischen (was ja ohnehin nicht wirklich trennbar ist). Die Forderung nach Menschlichkeit sprach immer wieder aus seinen Worten. Die Frage nach der Existenz, die Kommunikation mit anderen Menschen als existenziell wesentlich, die Erörterung von Vernunft als oberstem Erkenntnisvermögen sind zentrale Themen in seiner Philosophie. Und vor diesem Hintergrund erörtert Jaspers in seiner Philosophie besonders die Liebe als existenziell wesentliche positive und eigentlich sinnstiftende Kraft. „Liebend sehe ich erst, was eigentlich ist.“[4] Im liebenden Kampf finden die Liebenden zu sich und zu einander. Kommunikation bekommt hier ihren ganz besonderen Sinn, denn nur in Kommunikation erfahren wir Wesentliches.

Auch dieses Buch wird derzeit leider nicht mehr verlegt.

Umschlagtext

An Marxismus und Psychoanalyse entwickelt Karl Jaspers den Sinn der Wissenschaft und das Wesen der Vernunft, jenes »Wesentliche und Allumgreifende des Philosophierens …, worin wir vielleicht wieder einen gemeinsamen Boden finden«.

Jaspers zeigt die Vernunft im Kampf gegen Widervernunft. So öffnet sich der Raum der Freiheit, in dem die Macht der Ideologie und der Demagogie erlischt.

Ein Text, der auch vierzig Jahre nach seiner Veröffentlichung noch aktuell ist.

[1] Jaspers, Karl: Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit: Drei Vorlesungen. Neuausg. 3. Aufl. München: Piper, 1990 [(1) 1950], S. 34.

[2] Jaspers, Karl: Vernunft, S. 40.

[3] Arendt, Hannah: Humanitas. Laudatio anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Karl Jaspers 1958. Frankfurt am Main: Börsenverein des deutschen Buchhandels, o. J. [1958], S. 3 (http://www.boersenverein.de/sixcms/media.php/806/1958_jaspers.pdf).

[4] Jaspers, Karl: Von der Wahrheit. Lizenzausg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1983 [1947 (1)], S. 992.

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März 11

IV. Mehr Schein als Sein

Mehr Schein als Sein

oder

Verantwortung verpflichtet!

Gedanken zum Zeitgeist IV – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

Verantwortung verpflichtet! So ist die Internetseite von Herrn Freiherr Karl-Theodor von und zu Guttenberg überschrieben. Aber hat sich dies in der Affäre um seine Doktorarbeit widergespiegelt – sowohl bei ihm als auch im öffentlichen Umgang damit? Wofür steht diese Affäre möglicherweise stellvertretend? Zählt der Schein heute mehr als das Sein? Was an dieser Affäre ist für unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft von – vielleicht sogar fundamentaler – Bedeutung? Zur Diskussion über solche Fragen will dieser Kommentar anregen. Dabei geht es nicht allein um die Person Guttenberg, sondern vielmehr um sich in der Affäre spiegelnde Denkhaltungen und deren gesellschaftliche Bedeutung. Für deren Verdeutlichung muss dann aber eben das Verhalten des Herrn zu Guttenberg beispielhaft näher betrachtet werden!

Verantwortung verpflichtet! Und die Übernahme von Verantwortung setzt Charakter und Verantwortungsbewusstsein voraus. Also sollten wir in den entsprechenden Positionen von Politik und Wirtschaft beides vermehrt antreffen. Und wache Bürgerinnen und Bürger sollten die Trägerinnen und Träger von Verantwortung auch entsprechend beobachten und beurteilen. Für den gesunden Menschenverstand eine Schlüssige Annahme, oder? – Aber weit gefehlt! Denn die nähere Betrachtung der Plagiatsaffäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg zeigt leider in Teilen der Öffentlichkeit einen ganz anderen Umgang. Somit ist dieses Ereignis beispielgebend dafür, wie weit unserer gesellschaftliches Wertesystem und das damit verbundene Verantwortungsbewusstsein möglicherweise schon wieder verfallen sind. Mancherorts zählt mehr Schein als Sein, geübte Blender werden mehr geachtet als unscheinbar aber verantwortungsbewusst tätige Menschen. Dr. Helmut Kohl sprach vor seiner „Machtübernahme“ von einer geistig-moralischen Wende – geschafft!? Nun, angesichts mancher merkwürdigen Bewertung dieses Ereignisses oder auch anderer öffentlicher Darbietungen scheint sich diese Wende im Denken nicht weniger Menschen tatsächlich vollzogen, vielleicht sogar bereits manifestiert zu haben.

Ich habe früher in der Schule auch abgeschrieben

„Ich weiß gar nicht, was die haben, ich habe früher in der Schule auch abgeschrieben! Der Herr von und zu Guttenberg ist doch so ein gut aussehender freundlicher Mann – und der hat auch so eine schöne Frau an seiner Seite!“ – So oder ähnlich lauten die Kommentare, die wir in den ersten Tagen der Affäre im Radio von Moderatorinnen und Moderatoren hörten oder die wir in der Presse lesen konnten in Bezug auf die Plagiatsvorwürfe gegen Herrn zu Guttenberg. So etwas sendete hier in Niedersachsen der private Radiosender FFN genauso wie der öffentlich-rechtliche Sender NDR2 – und anderswo in Deutschland wird es nicht anders gewesen sein. Letzterer (NDR2) lässt so etwas nicht nur seine Moderatoren sagen, sondern kreiert dazu sogar extra eine Folge der Comedy-Serie „Frühstück bei Stefanie“ – von Rundfunkgebühren bezahlt, die nicht zuletzt erhoben werden, um die Bildung und die Informationsfreiheit für uns Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten! Dem wachen, vernünftigen und verantwortungsbewussten Menschen dreht sich dabei der Magen um! „Freiherr ist doch sowieso mehr“ geht es dann weiter. Im Falle dieses Beitrages mag ein Hinweis auf die Ironie ja noch stimmen. Allerdings wird die von vielen Menschen gar nicht mehr erkannt, sondern das wird tatsächlich wieder so gedacht. Es ist richtig, dass es ein „oben“ und ein „unten“ gibt. Wenn jemand es schafft, eine schöne Fassade aufzubauen oder gar „blaues Blut“ in seiner Adern fließt, dann hat der ja ohnehin mehr Würde; „die Reichen und Schönen“ sind ja so bewundernswert! wird tatsächlich geglaubt. „Oh, heute hat der Chef mit mir gesprochen!“ gilt als die höchste Ehre. – „Der Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“[1] (Kant) hat leider noch immer nicht stattgefunden! Nun gehört es zur Freiheit des Menschen auch, dumm zu sein und dumm zu bleiben. Doch für eine Gesellschaft und somit letzten Endes auch für einzelne Menschen („dumme“ wie „schlaue“) kann diese Beschränktheit schlimme Folgen haben! Wer in der Schule Geschichte lückenlos bis zur Gegenwart gelernt und dabei aufgepasst hat, müsste dies wissen! Der folgende Satz von Hannah Arendt mag dann zusätzlich zum Denken anregen:

„… der Stolz eines Bürgers einer Republik ist [es], nicht mehr zu gelten in öffentlichen Angelegenheiten als irgendein anderer Bürger – dies ist seine »Tugend« – … wenn man in einer Republik nicht mehr weiß, was Tugend ist, … so geht [diese] … ihrem Ende entgegen.“[2]

Charakterschwäche

Für einen Herrn Guttenberg entwickeln die Menschen dann plötzlich ein Mitgefühl. Das tägliche Leid Millionen von Menschen in der Welt oder auch nur das Pech des Nachbarn prallt an ihrer Einfühlsamkeit ab, aber der „arme“ Minister tut ihnen dann plötzlich leid. Dabei ist die Schicksalsverantwortung eigentlich ganz anders verteilt. Aber dennoch lachen die Menschen tatsächlich, über die Menschen, die sich aufregen und über Menschen, die Pech haben und … Schlichte Gemüter, die sich nicht bewusst sind, wohin wir schon wieder unterwegs sind? Vielleicht, aber es geht durch alle Bildungsschichten! Und Menschen, denen ein smart wirkendes Auftreten und eine schöne Fassade mehr wert ist als Ehrlichkeit, die haben mindestens, wie es scheint, eine Charakterschwäche – sowohl die, die sich so geben, als auch die, die so etwas bewundern! Wobei den Bewunderern vielleicht noch ihr einfacher Geist zu Gute gehalten werden können mag oder dass sie es schlicht nicht sofort als nur schöne Fassade erkennen. Allerdings frei nach Kant: die Anlage zum eigenständigen Denken haben wir alle mit der Geburt bekommen. Aufgabe einer freien Gesellschaft ist es dann, diese Anlage zu fördern – durch Bildung, die Vermittlung von Wissen und die Charakterbildung. Und da hat unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten versagt. Mit Willy Brandt als Bundeskanzler begann eine kurze Ära, in der dieses Ideal ganz bewusst angestrebt wurde. Schon gut zehn Jahre später, 1982, begann ein Ära, die noch immer andauert, in der dieses Ideal und seine realen Folgen allem Anschein nach bewusst untergraben und zerstört wurden und werden – zum Machtausbau und Machterhalt! Und viele Journalistinnen und Journalisten arbeiten heute fleißig daran mit. Angefangen hat das früh schon mit einem bekannten Boulevard-Blatt, fortgesetzt hat sich das dann mit der Einführung des privaten Rundfunks und privaten Fernsehens und erreicht wurden mittlerweile auch die öffentlich bezahlten Medien, die ja inzwischen auch ohne Probleme mit der bekannten Boulevardpresse zusammenarbeiten. In vor allem privaten Fernsehsendungen wird beispielsweise gefeiert, wie sich Menschen wie du und ich öffentlich bloßstellen oder wie diese öffentlich bloß gestellt werden. Haben wir gelacht! Merkwürdige Castingshows sind interessanter als ein anspruchsvoller Spielfilm. Und mit der Übertragung von Boxkämpfen in ARD und ZDF wird nach meinem Empfinden Gewaltanwendung auch noch als Sport kultiviert. Die Einschaltquote bei der Übertragung der königlichen Hochzeit in London wird dann andeuten, wie viele Menschen auch hierzulade doch gerne wieder einen König (vielleicht einen von und zu Guttenberg?) hätten. Hurra, wir verblöden! Die tendenzielle Tragweite dieser noch um viele Beispiele erweiterbaren Entwicklung scheint vielen nicht bewusst zu sein, gefährlich ist sie dennoch!

„… Wir wollen mehr Demokratie wagen. … Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. …“

Willy Brandt [3]

Titel, dessen blendenden Schein ich für meine Karriere in Politik und Wirtschaft benötige

Zurück zum aktuellen Beispiel. Es ist sehr wohl ein himmelweiter Unterschied, ob ein Kind oder ein Heranwachsender in der fünften oder siebten Klasse in einer Klassenarbeit abschreibt, oder ob ein erwachsener und gereifter (?) Mensch die „höchsten Weihen“ anstrebt, die unser Bildungssystem zu vergeben hat (beides ist zwar eine Verfehlung, aber das Kind findet noch zu sich als Person). Und das ist erstrecht ein Unterschied in einer Gesellschaft, in welcher Menschen mit Titel für besonders gehalten werden (was sie als Menschen nicht sind!). Und wirklich finster wird es, wenn es „ja nicht so schlimm“ sein soll, dass dies von einem Inhaber eines hohen Staatsamtes gemacht wurde. Ein Amt auch noch, in dem dieser Mensch die Verantwortung für viele andere Menschen trägt, die täglich das Leben wieder anderer Menschen und ihr eigenes Leben riskieren. Da fehlen einem schlicht die Worte! Jeder Student bekommt schon seine Hausarbeit „um die Ohren geschlagen“, wenn er sich nicht die Mühe macht, die Arbeit selbst zu verfassen, sondern sie abschreibt (vorausgesetzt sein Dozent merkt dies!)! Aber bei einem Minister soll dies nicht so schlimm sein? Jeder und jede, die wissenschaftlich arbeiten gelernt haben, weiß um die Sträflichkeit einer solchen Arbeitsweise. Und das hat ja auch einen Sinn. Wer den Doktor anstrebt, strebt eigentlich an, die Wissenschaft voran zu treiben (und idealer Weise nicht allein den Titel!). Und dafür erbringt er oder sie in der Doktorarbeit einen entscheidenden, besonderen Anteil. Und dazu gehört ein gewissenhaftes Arbeiten! Wenn es mir aber ohnehin nur um einen Titel geht, dessen blendenden Schein ich für meine Karriere in Politik und Wirtschaft benötige, dann muss ich mich ja nicht mit solchen „Kleinigkeiten“ aufhalten, oder? Mit Nichten! Denn eine solche Arbeitsweise ist ja nicht allein in der Wissenschaft (was aber auch allein sträflich wäre) untragbar, sondern ja wohl in jedem Arbeitsfeld. Kaum jemand würde sich gerne in ein Auto setzen, was mit einer solchen Denkhaltung montiert wurde. Sowohl dem so handelnden als auch den dieses Handeln Tolerierenden fehlt es einfach an einem Unrechtsbewusstsein und folglich auch an Verantwortungsbewusstsein!

Als Spross einer alten Adelsfamilie sind einem zunächst enge Grenzen gesetzt

Bei Herrn Guttenberg zeigt ein kurzer Blick in den entsprechenden Wikipedia-Eintrag (mit einem Verweis auf das ARD-Politik-Magazin Panorama) interessanterweise, dass dieser ohnehin zu Übertreibungen in seinem Lebenslauf neigt. – Soziologisch und psychologisch betrachtet können wir für das Verhalten von Herrn von und zu Guttenberg vielleicht sogar Erklärungen und somit „Entschuldigungen“ finden, denn als Spross einer alten Adelsfamilie sind einem vielleicht doch zunächst enge Grenzen gesetzt. Aber das ändert nichts an der politischen und moralischen Bewertung! Für Herrn Guttenberg bleibt zu wünschen, dass er diesen Einschnitt in sein Leben nutzt, um seine Denkungsart als Mensch (!) kritisch zu hinterfragen.

„Das junge Volk bildet sich ein,
Sein Tauftag sollte der Schöpfungstag sein.
Möchten sie doch zugleich bedenken,
Was wir ihnen als Eingebinde schenken.“

Johann Wolfgang von Goethe [4]

Die Kunduz-Affäre

Vor dem Hintergrund des Umgangs von Guttenberg mit der berechtigten Kritik an seiner Doktorarbeit erscheinen auch die schon fast in Vergessenheit geratene Kunduz-Affäre und auch seine bemühte Nähe zu den Soldaten in einem neuen Licht. In der Kunduz-Affäre hat Herr Guttenberg seinen Staatssekretär und den Generalinspekteur der Bundeswehr Schneiderhan entlassen, weil sie ihn angeblich unvollständig unterrichtet hätten. Der entlassene General, dem als Offizier wohl ein besonderes Pflichtbewusstsein zugesprochen werden kann und der eine solche Unterstellung sehr wahrscheinlich als ehrverletzend ansieht, versichert, dem Minister keine Informationen vorenthalte zu haben! Damals wie heute scheint ein immer gleiches Verhalten erkennbar zu sein. Erst wird forsch vorgeprescht und Aktionismus gezeigt, dann folgt ein langsames Rückwärtsgehen, in dem Fehler entweder anderen zugeschrieben, als geringfügig dargestellt oder als nun mal nicht vermeidbar abgetan werden. Erst, wenn es gar nicht mehr anders geht, werden sie eingestanden – soweit notwendig.

Guttenberg versteckt sich hinter seinen Soldaten

Und besonders unerträglich erscheint es nun auch, wenn sich Herr Guttenberg dann noch in seiner Rücktrittsrede darüber beschwert, dass die Berichte über seine Verfehlungen in den Medien den Tod und die Verwundung deutscher Soldaten in Afghanistan in den Hintergrund treten ließen. Da sind wir wieder bei der Frage nach der Verantwortung angekommen. Herr zu Guttenberg versteckt sich hinter seinen Soldaten! Was macht Herr von und zu Guttenberg mal wieder, als die Affäre langsam „hochkocht“ (kurz vor dem tragischen Tod der Soldaten)? Er fliegt schnell zu einem medienwirksamen Front-Besuch nach Afghanistan. So wie er den Afghanistan-Krieg immer wieder gern für medienwirksame Auftritte genutzt hatte – bis hin zu einer Fernsehshow zusammen mit seiner Frau Stephanie und Moderator Johannes B. Kerner. Hauptsache ein edler Schein bleibt gewahrt. An all das mögen bitte alle Soldatinnen und Soldaten denken, die jetzt ihrem Minister nachtrauern! Denn die Presse hat in unserer Demokratie den Auftrag, der Politik kritisch auf die Finger zu schauen. Ein verantwortungsbewusster Verteidigungsminister hätte den Vorgang abgekürzt, indem er seine Fehler sofort öffentlich eingestanden und seine Konsequenzen gezogen hätte. Dann hätte die Presse auch dem tragischen Tod der Soldaten und der Verwundung ihrer Kameraden wieder mehr Raum schenken und damit dies angemessener würdigen können.

„… so besteht stets die Möglichkeit, daß sich das Erscheinende schließlich, indem es verschwindet, als bloßer Schein herausstellt.“

Hannah Arendt [5]

Die promovierte Physikerin Merkel lässt weit blicken

Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Zu Recht und zum Glück gab es einen breiten Aufschrei aus der Wissenschaft! Denn wenn Herr Guttenberg damit durchgekommen wäre, hätte der gesamte deutsche Wissenschaftsapparat darunter gelitten. Die Würdigung deutscher Promotionsverfahren ist nicht Gegenstand dieses Kommentars, auch wenn diese bei der Doktorwürde des Ex-Ministers auch eine Rolle gespielt haben. Wenn es aber bei einer deutschen Doktorarbeit nicht mehr auf die Genauigkeit und Wahrhaftigkeit ankommt, dann verliert die gesamte Wissenschaft an Glaubwürdigkeit. Am Ende zählt ein deutscher Abschluss nichts mehr. Und auch eine fundierte kritische Auseinandersetzung mit Problemen wie zum Beispiel dem Atommüllendlager in der Asse bei Wolfenbüttel ist nicht mehr möglich, da es keine glaubwürdigen Wissenschaftler mehr gibt. Dass die promovierte Physikerin Merkel dann sagt, sie hätte einen Minister und keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt, lässt weit blicken – ihr Wissenschaftsverständnis betreffend, die charakterlichen Anforderungen für verantwortliche Ministerinnen und Minister betreffend und auch ihr eigenes Verantwortungsbewusstsein betreffend!

„… Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden Anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewußtseins eines Menschen, daß er einen Charakter hat …“

Immanuel Kant [6]

Vor dem Hintergrund der gesamten Affäre scheint es für alle verantwortungsbewussten Menschen ratsam, über die Tragweite der den beschriebenen Vorgängen zugrunde liegenden Denkhaltung von Menschen und Gesellschaft nachzudenken. Besonders betrachtenswert scheinen die Menschen, die so handeln ebenso wie die Menschen, die dies Handeln gutheißen; die Medien, allen voran die bekannte Boulevardpresse, die ihrer primären Aufgabe, der kritischen Begleitung von Politik und Wirtschaft, nicht gerecht werden; und Menschen überhaupt, die sich lieber vom schönen Glanz blenden lassen, als den eigenen Verstand zu benutzen.

Ergänzend sei hier noch angemerkt, dass die bekannte Boulevardpresse den Minister „hochgeschrieben“ und die Plagiatsvorwürfe zunächst schöngeredet hat und das diese Presse zugleich vom Verteidigungsministerium mit einer umsatzstarken Werbekampagne für dringend benötigte Freiwillige beauftragt wurde.

Für Reflexion und Diskussion ist eine kritische Betrachtung notwendig

Abschließend betone ich aber wieder, dass es nicht um die Forderung nach „Unfehlbarkeit“ geht! Auch soll dies keine abschließende Verurteilung von Herrn Guttenberg sein. Das ist die Aufgabe der betroffenen Hochschule, der zuständigen Gerichte und mit der gebotenen menschlichen Rücksichtnahme die eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin für sich. Aber für die Reflexion und eine Diskussion dieser Vorkommnisse und der damit verbundenen Denkhaltung ist eine kritische Betrachtung notwendig und zulässig. Verfehlungen begeht jeder Mensch! Bei der Beurteilung dieser Verfehlungen spielen dann sicher auch Absicht und Tragweite, also die Folgen, eine Rolle. Wie es scheint, kann mittlerweile wohl eine Absicht unterstellt werden. Das hieße dann aber, dass ein erwachsener Mann, der bereits eine Position mit gesellschaftlicher Verantwortung bekleidete, wie ein Schüler abgeschrieben hat. Und die tendenzielle Tragweite (in diesem Beispiel wahrscheinlich nicht die in vollem Umfang beabsichtigte) wurde zuvor zumindest in Teilen beschrieben. Eine große Verantwortung setzt auch einen starken und ehrlichen Charakter voraus. Wer sich der Verantwortung verpflichtet fühlt, muss dieser auch jederzeit eindeutig versuchen gerecht zu werden und auch eindeutig versuchen entsprechend zu handeln. Wie schon im alltäglichen Umgang von Menschen miteinander, Freunde, Nachbarn, Verkäufer, Kunden usw., so sollten auch und erstrecht in Verantwortungspositionen der Gesellschaft Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit vorrangige Tugenden sein. Doch wenn Politik, Wirtschaft und Medien mit solchen Beispielen voran gehen, wen wundert dann noch der „alltägliche“ Versicherungsbetrug? – um nur ein Beispiel für leider sehr verbreitete Verfehlungen zu nennen. Es fragt sich also, was den Blender zum Blenden treibt ebenso wie, warum sich heute wieder viele Menschen so gerne blenden lassen? Vielleicht sollte nicht nur Herr Guttenberg seine Denkungsart hinterfragen? Charakterbildung ist eine Aufgabe, vor der sich jeder Mensch irgendwann wiederfindet – dies wird nur leider häufig nicht erkannt. Alle zusammen sollten wir uns in jedem Fall aber in allen Bereichen unserer Lebenswelt wieder um mehr Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit bemühen!

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Weitere Informationen:

Ein interessanter Kommentar zu Guttenbergs Rücktritt findet sich auf den NachDenkSeiten mit dem Titel „Guttenbergs unaufrichtiger Rücktritt

Was hinter der Guttenberg-Affäre verschwindet zeigt ein anderer Beitrag der NachDenkSeiten: „Die Hauptsache verschwindet hinter dem Getöse um Guttenberg: der Ausbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, auch zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen

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Quellen

[1] Kant, Immanuel: “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”, Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 481-494. Zitiert nach Kant, Erhard, Hamann u. a.: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam, 1992, S.9 [auch Projekt Gutenberg].

[2] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Ungek. Taschenbuchausg. 11. Aufl. München: Piper, 2006 [(1) 1951], S. 959 f. [Hervorhebung i. Orig.].

[3] Brandt, Willi: Regierungserklärung 1969 (http://www.bwbs.de/UserFiles/File/PDF/Regierungserklaerung691028.pdf).

[4] Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Band XIV. Lyrische und epische Dichtungen. Band I. Hrsg. von Hans Gerhard Gräf. Druck des 27. Bis 29. Tausends von Breitkopf & Härtel in Leipzig. Leipzig: Inselverlag, [o. J.], S. 590 [Scan (Digitalisierung) des Buches zu finden im Internet Archive unter: http://www.archive.org/stream/leipsmtlichew14goetuoft/leipsmtlichew14goetuoft_djvu.txt].

[5] Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes: Das Denken: Das Wollen. Hrsg. V. Mary McCarthy. A. d. Amerik. V. Hermann Vetter. Ungek. Taschenbuchausg. 2. Aufl. München: Piper, 2002 [(1) 1971], S. 47 [Hervorhebung i. Orig.].

[6] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. u. eingel. V. Wolfgang Becker. M. e. Nachw. V. Hans Ebeling. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1983 [(1) 1798], S. 245 [auch: http://www.korpora.org/Kant/aa07/295.html].

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Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

I. Tapfer sterben für …

II. Der Finger in der Wunde

III. Die Demokratie lebt vom Diskurs

IV. Mehr Schein als Sein

V. Begründung einer Hoffnung

VI. Wer das Geld hat –

VII:.…

Juni 23

Spuren des Unrechtsstaats im Freistaat Braunschweig

Buchvorstellung

Gerhard Wysocki

Die Geheime Staatspolizei im Land Braunschweig

Polizeirecht und Polizeipraxis im Nationalsozialismus

Frankfurt//Main; New York: Campus Verlag, 1997.

Kartoniert, 367.

ISBN: 3-593-35835-2

[Die Quellenangabe bezieht sich auf die der Rezension zugrunde liegende Ausgabe]

Rezension und Hintergrund

(re) Der Rechtsstaat war im Dritten Reich faktisch aufgehoben. Die Gerichte urteilten ohnehin meist  opportun zu den Machthabern. Noch schwerwiegender war allerdings, dass die Polizei und vor allem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) völlig unabhängig von Gerichtsurteilen Menschen inhaftieren, foltern und auch töten konnte, durfte und sollte. Dies geschah zu Hauf im gesamten Deutschen Reich. Von diesem menschenverachtenden Abschnitt deutscher Geschichte berichtet diese Buch bezogen auf das Land Braunschweig. Braunschweig mit seinem überzeugten Nationalsozialistischen Ministerpräsidenten Dietrich Klagges war von Beginn an ein „braunes“ Musterland.

Umschlagtext:

„Die Polizei besaß im Nationalsozialismus nahezu unkontrollierte Befugnisse. Verhaftungen aus politischen Gründen, unbegrenzte Inhaftierung, Sonderbestrafungen und Hinrichtungen – alles schien ihr erlaubt. Das Buch zeigt die Herrschaftspraxis der Geheimen Staatspolizei in Justiz, Verwaltung und Gesellschaft am Beispiel des Landes Braunschweig. Neben rechts- und organisationsgeschichtlichen Grundlagen werden erschütternde Ereignisse geschildert, die die Herrschaftsmechanismen der Gestapo beleuchten.“

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Mai 4

Ökologie in Lehre und Forschung

Rainer Elsner

Ökologie in Lehre und Forschung.

Hochschulreihe Band X.

Wolfenbüttel: Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, 1994.

Kartoniert, XXII, 244.

ISBN 3-925884-10-6

Das Buch kann hier als PDF-Datei (1.775 kB) geladen werden. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Bitte beachten Sie den entsprechenden Vermerk im Impressum des Buches.

Grundlage für diese Veröffentlichung ist  die textgleiche Diplomarbeit Ansatzpunkte ökologisch verträglicher Arbeit in Lehre und Forschung – erörtert am Beispiel der Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel. Die interdisziplinäre Abschlußarbeit wurde im Januar 1994 im Fachbereich Versorgungstechnik vorgelegt. Nachfolgend findet sich die am Schluß der Arbeit stehende Zusammenfassung (die Überschriften sind redaktionell ergänzt worden).

Ihr folget falscher Spur,

denkt nicht, wir scherzen!

Ist nicht der Kern der Natur

Menschen im Herzen?

Johann Wolfgang von Goethe

Zusammenfassung

Aufgabe ist es, Ansatz­punkte für eine ökologisch verträgliche Arbeit in Lehre und Forschung zu finden. Dies geschieht am Beispiel der Fachhochschule Braun­schweig/Wolfenbüttel.

Ökologische Krise

Vor dem Hintergrund der ökologischen Krise, die an Phänomenen wie Treib­hauseffekt und Ozonloch sichtbar wird, stellt sich die Frage nach den Ursachen dieser Krise und nach neuen Wegen in allen Bereichen der Gesellschaft. Es kann eine über­mäßige Technisierung der Welt festgestellt werden, und mittlerweile geraten im Denken der Menschen vorherrschende Weltbilder zunehmend ins Wanken. Wissen­schaft und Technik spielen bei all dem eine bestimmende Rolle. Vieles weist aber darauf hin, daß die Menschlichkeit im derzeitigen Geschehen keinen angemessenen Stellen­wert besitzt; vielmehr sind Entscheidungen und Handlungen oftmals durch unmensch­liche Züge gekennzeichnet. All diese Phä­nomene und die bisherigen Reak­tionen der Menschen deuten darauf: die Welt ist in starkem Maße vernetzt, die Menschen haben diese Vernetzung bisher aber nicht ausreichend wahrgenommen und berücksichtigt. Eine in diesen Zusam­men­hängen dringend erforderlich erscheinende philosophische Diskussion über die derzeitige Lage und neue, möglich erscheinende Wege ist in Wissenschaft und Gesellschaft bisher nur wenig und unzureichend anzutreffen.

Ökologie

In den zuvor beschriebenen Zusammenhängen spielt die Ökologie eine wichti­ge Rolle, weshalb auch die Bedeutung der Begriffe Ökologie und ökologisch geklärt werden muß. Die biologische Teildisziplin Ökologie beschäftigt sich mit den Wechsel­beziehungen und den Wechselwirkungen zwischen Organismen und zwischen diesen und der unbe­lebten Natur. Dabei hat nicht zuletzt die Huma­nökologie dazu geführt, daß fast alle Wissenschaftsdisziplinen heute in der Öko­logie Berücksichtigung finden. Die Wurzeln der Ökologie reichen historisch be­trachtet weit zurück. Die Ur­sprünge der heutigen Ökologie sind im 17. und 18. Jahrhundert zu finden, der Begriff Ökologie entsteht im 19. Jahrhundert und am Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Ökologie als eigenständige Wissenschaft eta­bliert. Im 20. Jahrhundert wandelt und entwickelt sie sich zur modernen Öko­logie mit der Ökosystemfor­schung.

Vielschichtige Ursachen der Krise

Die Ökologiediskussion, die dem Begriff Ökologie einen gesellschaftspoliti­schen Charakter gegeben hat, ist gerade für diese Arbeit von Bedeutung. Das Wachstums­streben ist überall anzutreffen, erscheint aber in dieser Form nicht mehr länger als tragbar. Die Zusam­menhänge zwischen patriarchalen Herr­schaftsstrukturen, der Unterdrückung von Frauen und der Zerstörung der Natur lassen das Unmenschliche im Denken und Handeln zahlreicher Menschen sicht­bar werden und deuten einmal mehr auf die ver­netzten Strukturen der Welt. Damit verbunden ist ein Wissenschafts­aberglaube, der die Einschränkungen des Erkenntnisvermögens des Menschen stark verkennt und aus dem ein ständiges Machenwollen entspringt. Die Ursachen der ökologischen Krise sind also sehr vielschichtig.

Philosophische Diskussionen

Einige Aufgaben, die der Ökologie zugesprochen werden – insbesondere das Zusammenführen der vielen Wis­senschaftsdisziplinen -, sind allerdings in der Philoso­phie besser aufgehoben. Genauer sind auf viele Fragen keine letzten Antworten mög­lich, weshalb sie in philosophischen Diskus­sionen erörtert wer­den sollten. Außerdem nehmen wir die Welt vor­nehmlich fragmentiert wahr. Da diese in Wirklichkeit aber stark vernetzt ist, sollte verstärkt ein vernetztes Den­ken er­lernt und nach vernetzten Strukturen gesucht werden. Eine eindeutige, feste Definition für die Begriffe Ökologie und ökologisch ist somit aber nicht möglich. Es kann aber allgemein gesagt wer­den, daß ökologisch verträgliches Handeln sich an den Gegebenheiten der Natur aus­richtet und nicht gegen diese arbeitet.

Für den Bereich der Hochschule heißt das, daß ihre Arbeiten kurzfristig sicher weiter an der Schadensbegrenzung und -beseitigung mitarbeiten sollten; lang­fri­stig ist aber ein Handeln im Einklang mit der Natur anzustreben, wobei die Zeit nicht mehr all zu lang erscheint, die zum Umdenken verbleibt.

Dokumentierte Arbeiten der Fachhochschule

Die hier dokumentierten Arbeiten aus Lehre und Forschung der Fachhoch­schu­le, die sich z.Z. mit Ökologie und Umweltschutz beschäftigen, bilden eine Grundlage für Ansatzpunkte zum ökologisch verträglichen Arbeiten. In der Lehre gibt es in allen Fachbereichen – allerdings in unterschiedlichem Umfang – Veran­staltungen, die sich entweder am Rande oder schwer­punkt­mäßig mit öko­logi­schen Fragestellun­gen beschäftigen. Auf Grund der starken Spezialisierung spie­len diese Fragen nicht überall im gleichen Maße eine wichtige Rolle und sind auf einzelne Fachbe­reiche und Studiengänge beschränkt. Auch aus dem Bereich Forschung und Ent­wicklung sind zahlreiche Arbeiten doku­mentiert, wobei hier ebenfalls ein Fachbe­reich (Versorgungs­technik) den ungleich größten Teil ab­deckt. Ein Schwerpunkt an dieser Hochschule ist die Energie­versor­gung und -einsparung, ein weiterer ist die Entsorgung und einen dritten Schwerpunkt bildet der Verkehr. Aber auch Umweltüberwachung und Technikkritik sind zu finden, wobei u.a. eine intensive­re Beschäftigung mit der Technikfol­genabschät­zung ge­fordert wird.

Knapp vierzig Prozent der Lehrenden dieser Hochschule haben eine Umfrage nach ökologischen Lehr- und Forschungsinhalten beantwortet. Dabei sahen nicht ganz zwanzig Prozent aller Befragten einen ökologischen Bezug in Teilen ihrer Arbeit. Im Vergleich mit anderen, vornehmlich niedersächsischen Hochschulen fällt die FH Braunschweig/Wolfenbüttel bisher nicht besonders auf. Allerdings spielen soziale und ökologische Fragen, zwischen welchen eine starke Verbin­dung besteht, noch an den meisten Hochschulen eine nachgeordnete Rolle.

Vernetzt in Umwelt und Gesellschaft

Bei kritischen Betrachtungen sind Hochschule und Wissenschaft vernetzt in Umwelt und Gesellschaft zu sehen. Daß sich trotz mittlerweile jahrzehntelanger Anstrengungen noch nicht allzuviel verbessert hat, ist u.a. auf eini­ge Begeben­hei­ten in Wissenschaft und Gesellschaft zurückzuführen, die den notwendi­gen Wan­del zu ver­hindern scheinen. Hervorstechende Phänomene sind die Vorherr­schaft kurzfristiger ökonomi­scher Interes­sen, die weitgehend unvernetzte Dis­zi­plin­orien­tierung der Wissen­schaft, die Forde­rung nach Wissenschaftlich- und Beweisbar­keit, ein auffälliges Prestigedenken und die Auswirkungen der Wis­sen­schaft in der Praxis.

Bei der Suche nach ‘neuen’ Wegen, ist auch die ‘ideale’ freie und offene Hoch­schule zu vergegenwärtigen. Für die Schaffung eines verstärkten Problem­bewußtseins könnten in der Lehre zunächst verstärkt fachübergreifende Studien­anteile und das Projektstudium eingeführt werden; beides soll in einem fachbe­reichsübergreifenden Rahmen stattfinden. Das gleiche gilt für den FuE-Bereich, der ohnehin wieder stärker mit der Lehre ver­netzt werden sollte. Auch für diesen Be­reich erscheint die verstärkte fachbereichs­über­greifende Zusammenarbeit notwendig, die nicht mehr disziplinorientiert stattfindet, sondern die sich an den Problemen orien­tiert. So ist beispielsweise bei der Lösung von Verkehrspro­ble­men die Planung eines vollständigen Verkehrssystems angebracht. In diesem wer­den von Strategien der Verkehrsvermeidung über verknüpfbare bzw. sich ergän­zende Verkehrsmittel bis hin zur Energieversorgung alle relevanten Berei­che berücksichtigt. Dabei wird dann auch die Verbindung zu anderen Problem­berei­chen wie z.B. Energieversorgung oder Abfallentsorgung, welche ebenso umfas­send behandelt werden sollten, deutlich.

Vorrang kurzfristiger ökonomi­scher Interessen

Bei all dem kann und darf der Industriestandort Deutsch­land zum einen nicht das Maß aller Dinge sein, und zum anderen ist festzustellen, daß die Umweltauf­lagen diesem bisher eher genutzt als geschadet haben. Der Vorrang kurzfristiger ökonomi­scher Interessen dominater Gruppen in unserer Gesellschaft zeigt auch den oftmals noch unterschätzten sozialen Anteil der ökolo­gischen Krise. In Hoch­schule und Wissenschaft sollte deshalb die geistes- und sozial­wissen­schaftliche Auseinanderset­zung mit der ökologi­schen Krise verstärkt werden. Dazu gehört z.B. auch, daß solche Themen Einzug in die Lehrpläne der Inge­nieurwis­senschaf­ten finden. Die hier vorgeschlagene problembezogene Projekt­arbeit (Kap. III.4) versucht u.a. dies zu berücksichtigen. Eine Diskussion über Struktur, Arbeitsfor­men und Zielsetzungen der Fachhochschule scheint also dringend geboten.

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