Februar 21

Denkanstöße zu einem Windpark

Ein Windpark sorgt für aufgeheizte Diskussionen

Denkanstöße und ein Aufruf zur gemeinsamen Suche nach tragfähigen Lösungen

Ein Kommentar – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

Seit im Winter bekanntgegeben wurde, dass der Zweckverband Großraum Braunschweig (ZGB) an einer Ausweisung von Windkraft-Potentialflächen arbeitet, erhitzen sich mancherorts die Gemüter. Einer der ins Auge gefassten Standorte liegt zwischen dem Wolfenbütteler Ortsteil Ahlum und der Gemeinde Dettum (Samtgemeinde Sickte) im Landkreis Wolfenbüttel. Vor allem in der Gemeinde Dettum aber auch anderswo hat sich Aufregung ob des möglichen Windparks vor der Haustür breit gemacht. Vehement wird gegen den Windpark auf Veranstaltungen, auf einer Internetseite und in Leserbriefen gewettert, wodurch die Berichterstattung nach meinem Eindruck auch von den Gegnern dominiert wird. Die durchaus weitgreifende Bedeutung des Themas hat mich deshalb zu ein paar Hinweisen, Denkanstößen und einem Appell zur vernünftigen Lösungssuche veranlasst.

„Vernunft ist Bewegung ohne gesicherten Bestand. Sie drängt zur Kritik jeder gewonnenen Position, steht daher im Gegensatz zu der Neigung, sich durch endgültige feste Gedanken vom weiteren Denken zu befreien.“

Karl Jaspers[1]

Wir haben mehr als ein Problem!

Wir haben mehr als ein Problem! Windparks sind gegebenenfalls nur eines davon – und zugleich Teil der Lösung. Die anderen, in letzter Konsequenz kollektiv existenziellen (!), Probleme sind nicht erst seit Durban oder Fukushima bekannt! Die Menschheit marschiert allem Anschein nach sehendem Auges auf einen Abgrund zu. Seit Jahrzehnten versuchen kritische Stimmen, die Gesellschaft insgesamt wie die Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft im Besonderen darauf aufmerksam zu machen. Nur ein paar Beispiele:

In den frühen 1970er Jahren haben MIT-Wissenschaftler den 1. Bericht an den Club of Rome[2] abgeliefert; seitdem sind die Tendenzen im Bereich des Rohstoffverbrauchs und der Klimaentwicklung bekannt. Seit Ende der 1980er Jahre brachte das UN-Wissenschaftsgremium IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) mehrfach umfassende Berichte zur drohenden Klimaerwärmung heraus.[3] Seit den späten 1970er Jahren (Harrisburg) sind auch die Gefahren der Atomkraft vorstellbar, seit 1986 (Tschernobyl) schreckliche Realität. Ebenfalls seit den späten 1970er Jahren ist die Gefahr im (ohne atomrechtliche Genehmigung betriebenen) Atommüllendlager Asse 2 bekannt[4]. Dennoch haben in all diesen Fragen jahrzehntelang (!) nur wenige konsequent gehandelt und versucht gegenzusteuern!

Verantwortung

Wir alle, also zunächst wir als Gesellschaft und dann – quasi runtergebrochen – wir als jeweils einzelner Mensch sind hier angesprochen. Denn wir tragen alle gemeinsam und dann eben jeder für sich die Verantwortung dafür, was wir tun (ob nun als einzelne persönliche Handlung oder als kollektive Handlung von Gruppen, denen wir angehören). Dafür müssen wir (letztlich als einzelne Person) uns bewusst machen, ob wir die Folgen dieser Handlungen verantworten können und wollen!

Dazu gehört dann zum Beispiel auch die Frage, ob es mir tatsächlich egal ist, was mit den Menschen im Uranbergbau geschieht oder in Bangladesch, wenn der Meeresspiegel steigt (die Liste solcher „Beispiele“ ist sehr lang!). Am Ende gehört dann selbstverständlich auch der Mensch dazu, der unter einem Windpark leidet. Um das alles gegeneinander abwägen zu können, muss ich ergründen, wie die einzelne Last tatsächlich aussieht. Gefahren für die Gesundheit von Menschen muss dann selbstverständlich immer entgegengewirkt werden! Ästhetische Empfindlichkeiten wie die Veränderung des Landschaftsbildes durch hohe Masten und große Rotoren müssen wir partiell vermutlich einige Zeit hinnehmen. Für mich ist das im Zweifel erträglicher als der Abriss ganzer Dörfer (Braunkohletagebau) oder eben strahlenverseuchte Arbeiter und Anwohner (Beispiel Wismut im Erzgebirge, wir brauchen da gar nicht in die Ferne schweifen, um die tragischen Folgen zu sehen).

Für all diese Folgen sind wir als Gesellschaft verantwortlich, die seit geraumer Zeit über ihre Verhältnisse lebt – derzeit, als hätten wir 1,5 Erden für unseren Ressourcenbedarf verfügbar[5] – und als einzelner Mensch, der dem zugehörigen Lebensstil folgt und jeden Meter vom hübschen Einfamilienhaus zum Bäcker mit dem SUV fährt.

Ausgleich der Lasten

Und weiter, gesamtgesellschaftliche Probleme lassen sich nicht immer „gerecht“ lösen! Dann muss aber ein Ausgleich der Lasten stattfinden, müssen besonders belastete Menschen in der Tat entschädigt werden. Das alles ist übrigens grundlegend in Artikel 14 Grundgesetz geregelt (Eigentum verpflichtet). Auch wenn das nicht alle einsehen, wer mehr hat, muss (in zumutbarem Rahmen) auch mehr geben, auch im Kleinen. Als Beispiel: Wenn ich in einer Mietwohnung lebe(n muss), kann ich nur bedingt Ansprüche stellen. Häufig muss ich damit leben, das Hauptverkehrsstraßen laut sind, LKWs vorbeidonnern, das Haus hellhörig ist und ich jedes Husten des Nachbarn höre, ich vom Balkon auf das Nachbarhaus schaue usw. Zwar wird auch hier zum Teil technisch entgegengewirkt, aber irgendetwas ist immer. Solche Probleme habe ich im (dörflichen) Eigenheim in der Regel weniger. Tatsächliche Lärmbelastungen durch Windkraftanlagen muss ich dann sicher dennoch nicht hinnehmen, den Anblick einiger Windräder auf dem Acker schon – meine ich.

Deutschland ist ein dicht besiedeltes Land. Unsichtbar lassen sich die Anlagen also nicht errichten. Niemand will jedem ein Windrad in den Garten stellen. Aber wir alle müssen unseren Beitrag leisten für eine bewohnbare und lebenswertere Welt auch noch in der Zukunft. Und das geht nicht ohne – vertretbare – Beeinträchtigungen Einzelner. Die Gesellschaft insgesamt trägt dann gegebenenfalls die Verantwortung, diese Beeinträchtigungen erträglich zu gestalten.

jede technische Anlage hat Auswirkungen auf Mensch und Natur

Es geht – zumindest mir – jetzt aber nicht darum, die Betroffenen nicht ernst zu nehmen oder gar jeden Windpark um jeden Preis errichten zu lassen. Nur, jede technische Anlage hat Auswirkungen auf Mensch und Natur. Da wir in einer industrialisierten Wohlstandgesellschaft (!) leben, müssen wir versuchen, für jeden Einzelfall den denkbar besten Kompromiss zu finden. Das kann sicher auch das Unterbleiben einer Errichtung sein. Das einfache Rezept Offshore ja, Onshore nein funktioniert aber leider nicht.[6] Schon die hierfür notwendigen Stromtrassen bringen gleichfalls Belastungen für Menschen mit und stoßen deshalb ebenfalls auf Widerstand. – Und die kompromisslose Einnahme einer prinzipiellen Gegenhaltung hilft bei der Problemlösung gar nicht – zumal, wenn die eigentlich ursächliche Problematik ansonsten ignoriert wird.

Es geht, wie so oft, um die Fragen: Wie wollen wir leben? Welchen Preis sind wir bereit, dafür zu bezahlen? Und welchen Preis sind wir bereit andere – nicht zuletzt in anderen Ländern und auch in der Zukunft – dafür bezahlen zu lassen? Nach meiner Auffassung kommen wir um einen Umbau unserer Gesellschaft nicht herum. Konsum und Energieverbrauch um jeden Preis wird so oder so nicht mehr lange funktionieren. Aber auch für die Übergangszeit brauchen wir vertretbare Lösungen.

Sankt Florian

Bei den Gegnerinnen und Gegnern von Windparks finde ich aber leider kaum einen Hinweis auf die beschriebenen Probleme. Kaum jemand anerkennt die beschriebene Verantwortung von uns allen. Im Gegenteil, die drohende Klimaerwärmung wird teils sogar bestritten[7]. Die genannten Probleme finden sich allenfalls in Floskeln wieder. Immer wieder wird die ablehnende Haltung kollektiv kundgetan und anderen versucht „Sankt Florian“ zu unterstellen, um von der eigenen entsprechenden Haltung abzulenken. Doch, wer am lautesten „schreit“ und mit großen Gruppen die Säle dominiert, hat noch lange nicht Recht und repräsentiert damit auch nicht automatisch die Mehrheit. – Wobei echte Demokratie sich aber nicht in – im Zweifel rücksichtslosen – Mehrheitsentscheidungen offenbart, sondern eben im tragfähigen Kompromiss!

Es tut mir leid, aber es entsteht hier wirklich der Eindruck, dass von manchen Akteuren intensiv nach Argumenten gegen einen Windpark gesucht wird – gesucht, weil nicht wenige dieser Akteure (zugespitzt formuliert) eigentlich nur die Ästhetik stört. Hier muss sich jeder dann aber die Frage gefallen lassen, ob er oder sie denn lieber auf das Kohlekraftwerk Buschhaus sehen will oder auf das AKW Grohnde (gut 80 km von hier!)? Wo jeweils auf jeden Fall auch nicht nur die Ästhetik stört – vom Braunkohletagebau, Uranminen oder den Folgen der Klimaveränderung eben ganz zu schweigen.[8]

Aber, keine Frage, Ängste und Sorgen müssen ernst genommen werden!

Aber, keine Frage, die Ängste und Sorgen der potentiellen Anwohner müssen ernst genommen werden. Vernünftig kann das Thema nur diskutiert werden, wenn wirklich alle Interessen Berücksichtigung finden, alle Bedenken geprüft werden, alle Betroffenen Gehör finden. Dann müssen wir aber auch eine sachliche Diskussion unter Einbeziehung unserer gesellschaftlichen Verantwortung führen.

Da darf auch die Ästhetik als Grund genannt werden. Auch wenn es nach meiner Auffassung in diesem Fall nur ein nachgeordnetes Argument sein sollte. Die Bedenken zu gesundheitlichen Auswirkungen müssen auf jeden Fall ernst genommen werden. Denn sollte der geplante Windpark tatsächlich eine eindeutig erhöhte Belastung für die Gesundheit offenbaren, kann er so nicht gebaut werden. Ob und wie er gebaut werden kann, muss deshalb in einer von allen Beteiligten ergebnisoffenen, sachlich und vernünftig geführten Diskussion erarbeitet werden. [8]

eine gemeinsame sachliche und fachliche Arbeit mit am Ende tragfähigen Lösungsvorschlägen

Also liebe Menschen! Ich denke, wir haben keine Zeit mehr (zu verlieren). Es geht um die Welt unserer Kinder und Kindeskinder – nicht allein um unsere Befindlichkeiten! Das im Blick zu halten bei seiner Entscheidungsfindung ist vernünftig. Die Informationsarbeit des Zweckverbandes ist meines Erachtens schon sehr vorbildlich. Der Schritt, den Bürgermeister Pink für Wolfenbüttel gehen will, weist ebenfalls in die richtige Richtung. Ich meine aber, dass es möglicherweise nicht ausreicht, die Bürgerinnen und Bürger zu befragen. Es erscheint mir sinnvoll, die Bürger zuvor direkter an den Planungen zum Windpark zu beteiligen. Hierfür gibt es erfolgreich erprobte Methoden repräsentativer Art, in welchen eine gemeinsame sachliche und fachliche Arbeit in der Regel zu am Ende tragfähigen Lösungsvorschlägen führt – die dann auch Thema einer Bürgerbefragung sein können. In jedem Fall erscheint es mir sinnvoll, solche Methoden auszuprobieren, denn in ihnen steckt meines Erachtens noch weit mehr Potential.

Also, es gibt viel Arbeit, aber möglicherweise auch reichlich ungenutztes Lösungspotential. Worauf warten wir noch?

Wolfenbüttel, 21.02.2012

—–

Quelle:

[1] Jaspers, Karl: Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit: Drei Vorlesungen. Neuausg. 3. Aufl. München: Piper, 1990 [(1) 1950], S. 33.

[2] Meadows, Dennis L. [u.a.]: Die Grenzen des Wachstums: Bericht an den Club of Rome zur Lage der Menschheit. A. d. Amerik. V. Hans-Dieter Heck. Stuttgart: DVA, 1972 (amerik. Orig.: The Limits to Growth. New York: Universe Books, 1972).

[3] Vgl. z. B. auch: Leggett, Jeremy (Hrsg.): Global Warming: Die Wärmekatastrophe und wie wir sie verhindern können: Der Greenpeace Report. München, Zürich: Piper, 1990

[4] Jürgens, Hans-Helge: Atommülldeponie Salzbergwerk ASSE II: Gefährdung der Biosphäre durch mangelnde Standsicherheit und das Ersaufen des Grubengebäudes. Braunschweig: Braunschweiger Arbeitskreis gegen Atomenergie, 1979.

[5] Veltzke, Britta: „Global Overshoot Day: Schulden bei Mutter Erde“ taz.de vom 29.09.2011 (http://www.taz.de/!78867/) online abgerufen am 17.02.2012.

[6] Vgl. Bund für Umwelt und Naturschutz e.V. (BUND) (Hrsg.): Für einen natur- und umweltverträglichen Ausbau der Windenergie. Positionen: 56. Broschüre/PDF-Datei. Berlin: BUND, 2011 (speziell zu Offshore S. 12 f.; http://www.nabu.de/imperia/md/content/nabude/energie/4.pdf, abgerufen am 02.02.2012.

[7] Vgl. z. B. Gegenwind Schleswig-Holstein e. V.: „Informationen zur Klimahysterie 2010“ http://www.gegenwind-sh.de/index.php?article_id=54 online abgerufen am 17.02.2012;

und auch Herrn Zielinski im Interview: Feddern, Jörg; Zielinski,Hans-Joachim; Keiffenhaim, Marcel: „Streitgespräch Offshore“ greenpeace magazin Nr. 3 (2005), online, http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=2992&no_cache=1&sword_list[]=windenergie online abgerufen am 10.02.2012.

[8] Ich bin Bürgermitglied im Ausschuss für Bau, Stadtentwicklung und Umwelt des Rates der Stadt Wolfenbüttel. Benannt wurde ich von der Fraktion der Piratenpartei, mit der ich deshalb auch beratend zusammenarbeite. Ich selbst bin aber parteilos. Dieser Kommentar ist also meine persönliche Meinungsäußerung.
Gleichwohl habe ich für die Diskussion in und mit der Fraktion ein erstes Diskussionspapier erarbeitet, in dem ich begonnen habe, die Argumente zusammenzutragen und zu diskutieren. Das Dokument
Windenergiepark zwischen Wolfenbüttel–Ahlum und Dettum?: Fachbericht und Stellungnahme an die Fraktion der Piratenpartei zur möglichen politischen Lösung des Konflikts;
kann derzeit in seiner ersten Fassung von der Internetseite der Stadtratsfraktion der Piratenpartei in Wolfenbüttel als PDF-Datei kopiert werden. Die überarbeitete Fassung folgt in Kürze, kann aber hier (WindenergieparkAhlumDettumV1_2.pdf) bereits eingesehen werden.

Februar 12

VII. Demokratie!?

Demokratie!?

Oder

Wie demokratisch sind wir wirklich?

Gedanken zum Zeitgeist VII – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

Demokratie? Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass sich die deutlich überwiegende Zahl der Menschen in Deutschland und in den anderen westlichen Nationen als Demokratinnen und Demokraten bezeichnen. Aber haben alle diese Demokratinnen und Demokraten die grundlegenden Gedanken der modernen Demokratie auch verstanden und verinnerlicht? Das Verhalten so mancher Akteure lässt daran zweifeln. Dies gilt nicht nur für Politiker und Politikerinnen oder auch Wirtschaftsführer und Konzernchefs, nein, auch wir „normalen“ Bürgerinnen und Bürger geben immer wieder Anlass zum Zweifeln. Da ist der Gedanke nicht fern, dass vielleicht etwas Nachhilfe notwendig ist. Ob diese dann auch hilft, ist eine andere Frage. Die hier nun vorgetragenen Denkanstöße können dabei sicherlich nur erste Hinweise für eine solche Nachhilfe liefern. Das scheint mir aber dringend geboten, denn der Umgang mit unserer Demokratie und ihren Fundamenten kann nicht selten als fahrlässig bezeichnet werden. Das Ansinnen, die Demokratie marktkonform zu gestalten gehört ebenso dazu, wie die Unaufrichtigkeit politischer Amtsträger, immer wieder anzutreffende „Sankt-Florians“-Mentalitäten oder z. B. auch die jüngst veröffentliche Umfrage, der Zufolge es die nicht eben seltene Auffassung gibt, deutsche Geheimagenten sollten eine Lizenz zum Töten bekommen.

“Demokratie wächst mit dem Denken des Volkes. Ohne dieses ist sie eine entsetzliche Täuschung. Dass die Entwicklung der Urteilskraft möglich ist, ist die Idee der Demokratie.“

Karl Jaspers [1]

Fangen wir gleich mit dem Fundament aller modernen Demokratien an, den Menschenrechten, welche wiederum nicht zuletzt in der Menschenwürde gründen. Eine demokratische Gesellschaft ohne Achtung der Menschenrechte wird zur Despotie. Das hatte sicherlich Karl Jaspers im Sinn, als er die einleitend zitierten Sätze formulierte. Und das hatte vermutlich auch Immanuel Kant im Sinn, als er Demokratie mit Despotismus gleichsetzte und deshalb für eine repräsentative Staatsform eintrat.[2] Die Sorge, die aus beiden Gedanken spricht, ist die Erfahrung des Falls fanatischer Menschengruppen in brutale Rohheit. Wie dringend die Erinnerung an dieses Fundament ist, zeigt beispielhaft ein im November durchgeführte repräsentative Umfrage des ZDF. 54 Prozent aller Bundesbürger und sogar 70 Prozent (!) der Befragten in einem Alter bis zu 24 Jahre befürworten, einem deutschen Geheimagenten unter bestimmten Bedingungen das Recht zum Töten zuzugestehen.[3] Wie dies an anderer Stelle bereits kommentiert wurde[3] [4], fehlt es diesen Bürgerinnen und Bürgern offensichtlich an der Einsicht in rechtstaatliche Prinzipien und menschlicher Einfühlsamkeit. Denn, wenn wir uns nicht in einem James-Bond-Film oder einem Computerspiel befinden, dann ist die Lizenz zum Töten die verdeckte Einführung der Todesstrafe und die Aufhebung der Gewaltenteilung zugleich. Der Agent tötet in staatlichem Auftrag und ist Ankläger, Richter und Vollstrecker in einer Person. – Worin eine solche Denkweise wurzelt, sollte an anderer Stelle erörtert werden.

Gewaltenteilung

An gleicher Stelle, wo Kant auf die Gefahren einer Demokratie hinwies, sprach er auch von Bedingungen für ein funktionierendes Staatswesen. Eine fundamentale Bedingung dafür ist die im vorhergehenden Absatz genannte Teilung der Gewalten. Ihr Ursprung ist in den staatstheoretischen Schriften der Philosophen der Aufklärung John Locke und Montesquieu zu finden. Dieses Merkmal jeder modernen Demokratie ist die Dreiteilung in: die Gesetzgebende Gewalt (die Legislative; das Volk, in der parlamentarischen Demokratie die Parlamente), die Ausführende Gewalt (die Exekutive; die Regierungen und die ihnen unterstellten Behörden) und die Rechtsprechende Gewalt (die Judikative; die Richter, institutionalisiert in Gerichten). Idealerweise sind diese drei Gewalten strikt voneinander getrennt. Dabei sagt das Parlament, welche Richtung grundsätzlich eingeschlagen werden soll und stellt dafür die finanziellen Mittel bereit, die Regierung folgt diesem vorgegebenen Weg innerhalb eines von der Verfassung festgelegten Spielraumes. Und die Gerichte überwachen, ob sich alle an die vereinbarten Regeln halten. Für diese (hier vereinfacht dargestellte) moderne (parlamentarische) Demokratie kann neben den staatstheoretischen Überlegungen der Aufklärung auch die Französischen Revolution mit ihren politischen Umwälzungen (in Folge der Aufklärung) als Wurzel genannt werden. Die parlamentarische Demokratie ist hierbei (je nach Denkrichtung) schon ein Kompromiss, um bei der Vielzahl von Entscheidungen, Meinungen und Menschen noch handlungsfähig zu bleiben. Ebenfalls bereits auf die Aufklärung zurückzuführen ist auch die Benennung der Presse als sogenannte „vierte Gewalt“, die alle öffentlichen Vorgänge und Entscheidungen kritisch im Blick hält.

Volksherrschaft auf der Basis rechtsstaatlicher Prinzipien und unter Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte

Demokratie bedeutet dem Wortsinn nach Volksherrschaft. Damit diese nicht – wie einleitend angesprochen – in Despotie umschlägt, haben die meisten modernen Demokratien ihre Verfassung nicht nur auf die Gewaltenteilung aufgebaut, sondern auch auf rechtsstaatliche Prinzipien unter Anerkennung unveräußerlicher Menschenrechte. Das bedeutet, dass das Volk eines Staates der eigentliche Besitzer der Macht und somit der Gesetzgebungskraft ist. „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ steht im bundesdeutschen Grundgesetz (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Der Souverän, also der Herrscher ist nicht mehr ein König oder Fürst, sondern das Volk. Das (Staats-)Volk bilden dabei alle Staatsbürger eines Staates. In der Europäischen Union sind dies je nach politscher Gesetzgebungs- und Verwaltungsebene die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eines einzelnen Mitglieds-Staates oder aber der gesamten Union. Zugleich wird in den Verfassungen direkt oder indirekt (durch UN-Verträge und UN-Erklärungen oder in Europa z. B. auch der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK) die Würde des Menschen und die Achtung der Menschenrechte als Grundlage von Gesellschaft und Gesetzgebung anerkannt (vgl. z. B. Art. 1 GG). Ausnahmslos alle Personen sind dabei an das Gesetz gebunden.

ausnahmslos parlamentarische Demokratien

Wohl auch aus den einleitend genannten Gründen wie auch aus praktischen Gründen heraus haben sich alle größeren demokratischen Staaten als parlamentarische Demokratien organisiert. Die Macht des Volkes wird von diesem also nicht direkt ausgeübt, sondern mit Hilfe von Vertreterinnen und Vertretern in Parlamenten. Diese Parlamentsmitglieder werden vom wahlberechtigten Teil des Volkes (meist alle volljährigen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger) für definierte Perioden gewählt. Ergänzend dazu gibt es in den vielen Staaten die, meist eingeschränkte, Möglichkeit von Volksabstimmungen. Die Parlamente stellen in unseren Demokratien also das zentrale Element dar, denn in ihnen wird der Souverän, das Volk, vertreten (repräsentiert). Nicht zuletzt, weil sowohl das Volk als dann auch seine Vertretung politische Handlungen nur grundlegend beurteilen können, wenn sie möglichst alle Fakten kennen, ist Offenheit ein fundamental wichtiger Aspekt. Jede Geheimhaltung untergräbt die demokratische Teilhabe. Daneben ist Bildung ein weiterer fundamental wichtiger Aspekt, Bildung im Sinne von Wissensaneignung und im Sinne von Charakterbildung (wie andernorts bereits angesprochen). Denn diese sind notwendig für ein vernünftig gefälltes Urteil.

Das ist das Ideal!

Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass in einer echten Demokratie nach modernem Verständnis das Volk an möglichst vielen, vor allem grundlegenden Entscheidungen beteiligt werden sollte. In den parlamentarischen Demokratien erarbeitet und verabschiedet das Parlament die Gesetze und kontrolliert die Regierung in der Ausführung dieser Gesetze. Die Regierung sorgt für die Umsetzung der Entscheidungen, Entscheidungen des Alltags trifft die Regierung eigenständig. Gegenüber dem Parlament muss die Regierung immer Rechenschaft ablegen und das Parlament wiederum muss immer dem Volk gegenüber Rechenschaft ablegen.

Da das Volk der Souverän ist, sind ihm auch alle staatlichen (auch die kommunalen) Einrichtungen grundsätzlich Rechenschaft also Offenheit schuldig – unabhängig von der formalen Basis des Amtes.

Die Basis allen staatlichen Handelns bilden die unveräußerlichen Menschenrechte und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Ob bei einem der Beteiligten Verstöße gegen vereinbarte Regeln stattgefunden haben, stellen dann unabhängige Gerichte fest (aufgrund der Bedeutung einer Anklage sollte eigentlich auch die Anklagebehörde unabhängig sein). Im Zweifel sorgt die Presse für das Bekanntwerden von Verfehlungen der staatlichen Organe. Das ist vereinfacht zusammengefasst das Ideal!

Geheimkommission mit weitreichenden haushaltspolitischen Entscheidungskompetenzen

Die politische Realität ist leider eine andere. Im Herbst vergangenen Jahres hat der Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble angemahnt (sinngemäß), doch nicht zu hohe parlamentarische Hürden aufzubauen für das Handeln der Regierung in Bezug auf den Euro-Rettungsschirm[5]. Auch wenn Herr Schäuble seinerzeit in den Interviews immer die Bedeutung des Parlamentarismus hervorhob, so wurde dennoch wenig später eine neunköpfige Geheimkommission des Parlaments ins Leben gerufen. Und diese Geheimkommission soll weitreichende haushaltspolitische Entscheidungskompetenzen haben. Nach einer Klage von Bundestagsabgeordneten hatte das Bundesverfassungsgericht die Arbeit dieser Kommission bis zur endgültigen Gerichtsentscheidung dann jedoch auf Eis gelegt.[6] Allerdings wird mittlerweile berichtet, dass das Verfassungsgericht angedeutet hat, die Entscheidung nicht zu „kassieren“.

 „Nur auf dem Weg der Wahrheit in der Öffentlichkeit kann der politische und wirtschaftliche Gang des Daseins für uns zum Guten führen. Maximale Öffentlichkeit ist für die Wahrheit notwendig … Öffentlichkeit ist der Raum der Politik eines freien Volkes. Das Maß der Öffentlichkeit ist Kriterium seiner Freiheit.“[7]

Karl Jaspers

Unabhängig von der noch ausstehenden Entscheidung des Verfassungsgerichts kann festgestellt werden, dass sowohl das Anmahnen von Herrn Schäuble als auch die Gründung einer Geheimkommission mit finanzpolitischen Kompetenzen einen starken Eingriff in die demokratischen Prozesse darstellen. Denn das Haushaltsrecht ist ein fundamentales Recht des Parlaments, um das politische Handeln (also das Regierungshandeln) zu bestimmen. Und eine echte Demokratie kann nur in einem Klima der Offenheit – also ohne Geheimkommissionen – stattfinden! Wenn Strukturen der Wirtschaft dem entgegenstehen, dann müssen diese Strukturen geändert werden, nicht die demokratischen Prozesse! Alles andere stellt unsere Demokratie in Frage. Das Parlament repräsentiert den Souverän, nicht die Wirtschaft oder Teile von ihr. Besonders Bedenklich wirkt dann die zeitnah dazu ausgesprochene Forderung von Bundeskanzlerin Merkel nach einer „marktkonformen Demokratie“.[8] Hier soll das Pferd eindeutig von der falschen Seite aufgezäumt werden.

Wie demokratisch sind wir nun tatsächlich organisiert?

Nun darf gefragt werden: warum wird das alles erzählt? Das hat doch jeder in der Schule gelernt. – Das mag wohl sein, aber die Betrachtung der aktuellen politischen Lage (wie bereits beispielhaft angesprochen) legt es nahe, dass eben doch ein wenig „Nachhilfe“ oder Auffrischung des Gedächtnisses in Staatstheorie oder besser Demokratietheorie für einige Akteure nützlich sein könnte. Denn wie demokratisch sind wir nun tatsächlich organisiert?

In so gut wie allen westlichen Demokratien wird die Herrschaft des Volkes – wie bereits erwähnt – repräsentativ ausgeübt. Das heißt, vom Volk gewählte Vertreterinnen und Vertreter (Repräsentanten) treffen die Entscheidungen (in den Parlamenten). Einzig in der Schweiz ist die Volksabstimmung auch auf der höchsten Ebene eine häufiger stattfindende Form der Entscheidungsfindung. Wenn wir diese parlamentarischen Demokratien dann eingehender betrachten, stellen wir aber weiter fest, dass vor allem Legislative und Exekutive nicht so deutlich getrennt sind, wie dies sein sollte und es eine Machtverschiebung hin zur Exekutive gibt. Die überwiegende Zahl der Regierungsmitglieder hat zugleich einen Sitz im Parlament, Gesetze werden häufig in Ministerien ausgearbeitet und nicht in den Parlamentsausschüssen. Nicht selten findet diese Gesetzesformulierung in den Ministerien sogar unter Beteiligung von Konzernvertretern aus der Wirtschaft (also einer nicht mandatierten Interessengruppe) statt. Und auch die Unabhängigkeit der Richter ist nicht vollständig gegeben. Die für die rechtstaatliche Überwachung zuständige und notwendige Staatsanwaltschaft schließlich ist ohnehin in den Exekutivapparat eingebunden, ermittelt also nicht immer unabhängig. Die im Medienbereich stattfindende Konzentration der Eigentumsverhältnisse schließlich hat zunehmend eine fehlende Objektivität und fehlende kritische Distanz in der Berichterstattung zur Folge.

Sorge um die „Wettbewerbsfähigkeit unserer Enkel“

Betrachten wir ein weiteres Beispiel aus den vergangenen Monaten. Am Rande des G20-Treffens in Cannes hatte es eine Diskussion um die Hilfen für das geschwächte Griechenland gegeben. Griechenland soll weitere Gelder bekommen, wenn es mit den Zahlungen verbundene Auflagen und Sparmaßnahmen befolgt. Der damalige griechische Regierungschef Giorgos Papandreou stimmte dem zu, kündigte wenig später aber eine Volksabstimmung über diese für das griechische Volk weitreichende Entscheidung an. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy reagierten daraufhin zunächst nur überrascht und empört. Frau Merkel sorgte sich dabei um die „Wettbewerbsfähigkeit unserer Enkel“, nicht aber um unsere Demokratie![9]

Unabhängig von der (in der Öffentlichkeit häufig viel zu einseitig und verkürzt geführten[10]) Diskussion um die Probleme Griechenlands kann hier festgestellt werden, dass die Maßnahmen tiefe Einschnitte in das Leben der griechischen Bevölkerung bedeuten. Und in einer Demokratie gehört es zum Recht des Volkes, über grundlegende Entscheidungen mitbestimmen zu dürfen. Entsprechend erscheint die Empörung über ein solches Vorgehen, die seinerzeit von einigen Akteuren zu hören war, aus demokratischer Sicht zumindest bedenklich.

Zwar können – erstrecht in unserer „bildungsarmen“ Mediengesellschaft – Volksabstimmungen auch populistisch missbraucht werden. Aber eine direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern – welcher Art auch immer – ist gerade in sehr kontroversen Situationen hilfreich wenn nicht sogar notwendig. Das ist zum einen eine Frage des Respekts dem Souverän gegenüber und zum anderen das Wissen darum, dass eine Entscheidungsfindung außerhalb der ausgetretenen Pfade des administrativen Alltags in der Regel mehr kreatives Potential entfalten kann. Insofern sollte eine Volksabstimmung oder –Befragung möglichst am Ende eines solchen kreativen Prozesses stehen.

Wenn dann aber jüngst sogar ein Sparkommissar der EU für Griechenland gefordert wird[11], dann ist das die endgültige Auslieferung des Staatswesens an die Finanzwirtschaft. Dann stellt das eine völlige Missachtung der Souveränität und der Würde des griechischen Volkes dar. Mit Demokratie hat das nichts mehr zu tun.

Ergänzend sei hier noch angemerkt, dass gerade auf der EU-Ebene viele Entscheidungsbefugnisse nicht eindeutig demokratisch legitimiert sind. In der Kommission werden viele Entscheidungen getroffen, nicht im Europäischen Parlament. Und viele an den aktuellen Entscheidungen beteiligten Organisationen und Einrichtungen besitzen gar keine demokratische Legitimation (Ratingagenturen, IIF) und vertreten vermutlich ohnehin bestimmte (auch nationale) Interessen.

Eine Demokratie lebt aus dem Denken, dass alle Menschen gleich sind in ihrem Wert und in ihren Rechten

An Beispielen können noch viele weitere aufgeführt werden. Zu nennen sind zum Beispiel wieder Guttenberg für das fehlende Empfinden für die Bedeutung von Aufrichtigkeit und auch von gewissenhafter Arbeit. Auch Herr Wulf darf nicht ungenannt bleiben, denn auch hier scheint die Empfindung für die Bedeutung von Aufrichtigkeit zu fehlen wie auch die Einsicht in die Bedeutung der Unabhängigkeit von politischen Ämtern. Diese an anderer Stelle bereits besprochenen Vorgänge zeigen beispielhaft, das es bei zunehmend mehr Menschen in der Politik und auch anderswo ein fehlendes Unrechtsbewusstsein, eine gewisse Überheblichkeit und Maßlosigkeit und ein Verkennen der Bedeutung von Aufrichtigkeit zu geben scheint.

Auch wenn die aktuelle Diskussion um den amtierenden Bundespräsidenten leider von eigentlich wichtigeren Themen (z. B. einer zunehmenden Kriegsbereitschaft) ablenkt (es kommt bisweilen das Gefühl auf, es könnte Absicht sein). So rückt diese Diskussion eben auch den zuvor genannten, durchaus folgenschweren Missstand einmal mehr ins Blickfeld. Sicher sind auch Politikerinnen und Politiker „nur“ Menschen (es geht deshalb auch nicht um wirklich private Angelegenheiten!). Aber gerade die Menschen in den exponierteren Staatsämtern haben eben eine besondere Verantwortung übernommen und sind in ihrer herausgehobenen Position eben auch Vorbilder.

Eine Demokratie lebt unter anderem aus dem Denken, dass alle Menschen gleich sind in ihrem Wert und in ihren Rechten. Auch wenn es tatsächlich Menschen gibt, die einen mit solchen Gedankenäußerungen als Kommunisten (dämonisierend gemeint) bezeichnen, so ist das nicht kommunistisch (zumindest in den real existierenden Systemen gab es ebenfalls keine Gleichheit und noch weniger die Achtung von Menschenrechten!), sondern es ist schlicht menschlich, also die Würde des Menschen – jedes einzelnen Menschen – achtend! Nichts anderes einfordernd also, als was unsere Verfassung garantiert. Und deshalb gilt für politische Ämter vom Grundsatz (oder zumindest vom Grundgedanken) her das lateinische Prinzip primus inter pares – Erster unter Gleichen (wenn dies auch in der konkreten rechtlichen Ausgestaltung der Ämter aus praktischen Gründen meist nicht der Fall ist). Das Verhalten mancher Amtsträger aber legt den Schluss nahe, dass ihnen dieses Denken fremd ist.

Demokratie lebt von Offenheit

Um nach diesem Exkurs zu den (vereinfacht gesagt) Guttenberg-Wulf-Phänomenen nun aber doch wieder zurück zu den Kernfragen zu kommen, soll auch die aktuelle Geheimdienstdiskussion nicht unerwähnt bleiben. Wie einige Absätze zuvor schon angesprochen lebt die Demokratie von Offenheit. Das bedeutet, dass alle Angelegenheiten, die eindeutig ein öffentliches Interesse berühren, auch öffentlich stattfinden müssen. Nur Transparenz schafft Vertrauen und schützt vor Missbrauch und Fehlentwicklungen. Behörden und staatliche Handlungen berühren grundsätzlich ein öffentliches Interesse. Genaugenommen widersprechen Geheimdienste als solche schon diesem Grundsatz. Nun mag es nachvollziehbare Ausnahmegründe geben, weshalb dennoch Geheimdienste notwendig sind und manches verschwiegen werden muss. Dann aber muss eine uneingeschränkte parlamentarische Kontrolle stattfinden und alles darf den Boden unserer Verfassung nicht verlassen! Gerade der aktuelle Blick auf die Geheimdienste lässt leider aber daran zweifeln, ob ihre Arbeit wirklich immer unserer Demokratie dient. Ein Verfassungsschutz wird seinem Namen wohl kaum gerecht, wenn er zweifelsfrei erkennbare Feinde unserer Verfassung – milde ausgedrückt – nicht ernst nimmt und gewähren lässt – mit all seinen schrecklichen Folgen – andernorts aber Menschen ins Visier genommen werden, die häufig schlicht einfordern, was in den Grundrechtsartikeln unserer Verfassung verbrieft ist. Eine solche Behörde muss sich Kritik und auch die Frage nach ihrer Daseinsberechtigung gefallen lassen.

Wo der eigentliche Wertmaßstab zu liegen scheint, zeigt dann auch die häufig anzutreffende Sichtweise, Betriebsgeheimisse von Unternehmen seien in der Regel höher einzustufen als das Wohl und Interesse der Allgemeinheit – sei es beim Umgang mit gesundheitsgefährdenden Stoffen oder bei Verträgen zwischen öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen.

Bleiben also wieder ein paar Fragen

Bleiben am Ende wieder ein paar Fragen, die sich jede und jeder stellen sollten. Welchen Wert hat echte Demokratie für mich? Wie kann echte Demokratie auf der Basis der unveräußerlichen Menschrechte verwirklicht werden? Wie kann ein Wirtschafts- und Finanzsystem organisiert sein, dass eine demokratische Gesellschaft stützt und nicht hintertreibt? Und wie habe ich das Handeln und Verantwortungsbewusstsein der auftretenden Akteure aus demokratischer Sicht einzuordnen?

Und wer jetzt noch fragt, warum das wichtig ist?, der lese bitte regelmäßig mehr Presseveröffentlichungen als die der BILDzeitung oder auch der etablierten Tagespresse. Ein Blick in die Berichte der taz vom 11.11.2011 präsentiert beispielhaft: einen Polizeiskandal in Hessen, der zeigt, welche bedenklichen Formen ein zumindest unreflektiertes Handeln auch in unserer Demokratie annehmen kann; und den brutalen Kampf um die Informationskontrolle im Netz in Mexiko, der möglich wird, wenn eine Gesellschaft es nicht schafft, die genannten Basisprinzipien durchzusetzen – und zwar schon in den „harmlosen“ Anfängen!

„Die Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.“

Willy Brandt [12]

Nachsatz

Demokratie bedeutet nicht nur: Rechte einfordern. Ohne das (häufig ehrenamtliche) Engagement vieler einzelner Menschen in politischen Ämtern wie in Vereinen und Initiativen, funktioniert keine Demokratie. Glaubhaft wird dieses Engagement aber erst, wenn es sich über bloße Eigeninteressen hinweg auch der Gemeinschaft von Menschen insgesamt verantwortlich fühlt und entsprechend handelt. Es gibt auch Pflichten: mindestens die Pflicht der Verantwortung eines jeden Menschen seinen Mitmenschen gegenüber.

Wolfenbüttel, Herbst 2011 und Winter 2011/2012.

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Quellen und Lesehinweise:

[1] Jaspers, Karl: Freiheit und Wiedervereinigung. Zitiert nach: Jaspers, Karl: Von der Weite des Denkens: Eine Auswahl aus seinem Werk. München: Piper, 2008, S. 138.

[2] Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden: Ein philosophischer Entwurf. Hrsg. V. Rudolf Malter. Stuttgart: Philipp Reclam Jun., 1993, S. 14 [1: 1795] [Anmerkung: Diese Schrift von Kant wird heute allgemein anerkannt als ein erster Versuch, so etwas wie die Vereinten Nationen als Garant eines friedlichen Zusammenlebens der Völker zu begründen].

[3] Duve, Silvio: „ZDF-Umfrage: Deutsche wollen Geheimdienst-Morde zur Gefahrenabwehr“ Telepolis vom 30.01.2012 (http://www.heise.de/tp/artikel/36/36319/1.html).

[4] Lieb, Wolfgang: „Anmerkung“ in den „Hinweisen des Tages“ vom 31. Januar 2012, Punkt 12 „ZDF-Umfrage: Deutsche wollen Geheimdienst-Morde zur Gefahrenabwehr“ auf den NachDenkSeiten.

[5] „Schäuble warnt vor zu viel Mitsprache des Bundestages“ in Zeit-Online http://www.zeit.de/politik/deutschland/2011-08/finanzminister-schuldenkrise-rettungsschirm und

„Schäuble warnt Bundestag vor zuviel Mitsprache“ in Stern-Online http://www.stern.de/politik/deutschland/reform-des-euro-rettungsschirms-schaeuble-warnt-bundestag-vor-zu-viel-mitbestimmung-1722798.html

[6] in Hamburger Abendblatt Online http://www.abendblatt.de/politik/deutschland/article2075318/Nur-24-Stunden-Freude-Karlsruhe-bremst-Rettungsschirm.html

[7] Jaspers, Karl: Kleine Schule des philosophischen Denkens. Ungek. Taschenbuchausg. München: Piper, 1997 [1965(1)], S. 121.

[8] Angela Merkel, vgl. http://www.nachdenkseiten.de/?p=10611

[9] Leo Kim: „Der Schwächste fliegt aus Euroland“ stern.de vom 03.11.2011 (http://www.stern.de/politik/deutschland/gipfel-in-cannes-der-schwaechste-fliegt-aus-euroland-1746747.html)

sowie

Angela Merkel, Nicola Sarkozy: „Pressekonferenz zum griechischen Referenz“ Mitschrift Pressekonferenz Die Bundesregierung – Nachrichten vom 02.11.2011 (http://www.bundesregierung.de/nn_1272/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2011/11/2011-11-03-merkel-sark-cannes.html).

[10] An dieser Stelle seien zum Beispiel die „NachdenkSeiten“ als eine sinnvolle Ergänzung des täglichen Nachrichtenkonsums empfohlen! Denn in den Zeitungsmeldungen und Nachrichtensendungen wird leider nur selten kritisch berichtet. Vielmehr beten die Medien Pressemitteilungen aus Politik und Wirtschaft vor und zitieren sie „anerkannte Fachleute“, die bei näherer Betrachtung nicht selten handfeste Interessen verfolgen und nicht objektive Wissenschaft betreiben. Die NachDenkSeiten sind einer der wenigen vorhandenen Versuche, noch einem Journalismus mit Substanz nachzugehen. Das heißt Beiträge mit eigener Recherche und kritischen Hinterfragen sogenannter Fakten erarbeiten. Deshalb finden wir auch dort dennoch sicher nicht „die Wahrheit“. Aber die Realität wird mindestens facettenreicher. Und das kommt der Wahrheit vermutlich näher als die Tageszeitung für sich – von bekannten Boulevard-Blättern (auch online) ganz zu schweigen.

[11] Lohrenz, Carolin: „“Wie einst der Angriff von Hitlers NS-Deutschland“: Debatte über Merkels Sparkommissar“, Spiegel-Online, 03.02.2012, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,813093,00.html

und

Papadimitriou, Jannis: „Athen gegen „Gauleiter“: Sparkommissar für Griechenland gefordert“, taz.de, 29.01.2012, http://www.taz.de/Sparkommissar-fuer-Griechenland-gefordert/!86632/.

[12] Willy Brandt, Erinnerungen, 1989, zitiert nach Wikiquote (http://de.wikiquote.org/wiki/Willy_Brandt).

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Informationen, Gedanken und Hintergründe zu „Griechenland“:

Aufsätze aus dem Internet

Jens Berger: „Der „Schuldenschnitt“ und das Kleingedruckte“ in NachDenkSeiten – Die kritische Webseite vom 28.10.2011.

Wolfgang Lieb: „Referendum in Griechenland: Die Politik muss endlich begreifen, es geht um das Vertrauen der Menschen und nicht um das Vertrauen der „Märkte““ in NachDenkSeiten – Die kritische Webseite vom 02.11.2011.

Jens Berger: „Denk ich an Europa in der Nacht …“ in NachDenkSeiten – Die kritische Webseite vom 03.11.2011.

Jens Berger: „Ergänzungen und Erklärungen zum Artikel »Der „Schuldenschnitt“ und das Kleingedruckte«“ in NachDenkSeiten – Die kritische Webseite vom 04.11.2011.

Die Aufsätze stammen alle aus dem Herbst 2011, wo ich mit diesem Text begonnen hatte. Mittlerweile sind auf den NachDenkSeiten weitere interessante Aufsätze zum Thema erschienen.

Eigene Beiträge zum Thema:

#1 Ratingagenturen!? – Ist es aus gesamtgesellschaftlicher Sicht sinnvoll, wenn private, gewinnorientierte Unternehmen über die Kreditwürdigkeit von Staaten (!) entscheiden? – Juli 2011

sowie eigentlich die ganze nachstehende Rubrik.

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Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

Katgeorie:Hauptartikel, Kommentare, Menschen- u. Bürgerrechte, Politik und Gesellschaft, Wirtschaft | Kommentare deaktiviert für VII. Demokratie!?